Wie eine neurotische Gesellschaft von einer Panikattacke in die nächste fällt
Hysterisch wirft ein Teil unserer Gesellschaft sich einer Panik nach der anderen in die Arme. Noch ist es nicht lange her, als kreischende Jugendliche durch die Gassen zogen und Klimafurcht schürten. Rasend und bei ausgeschalteten Verstandesbremsen legten sie sich in eine linke Kurve nach der anderen.
Nun lebt das Klima anscheinend noch. Wo sind seine Apostel und seine Jünger geblieben? Müssen wir sie unter den Antifaschisten der auf sie folgenden Panikwelle suchen, die hinter jedem Busch einen Nazi-Indianer sehen? Sahen sie Deutschland nicht kurz vor einer braunen Machtergreifung, hörten sie nicht den Marschtritt der SA-Kolonnen durchs Brandenburger Tor?
Oder war auch das bloß eine paranoide Einbildung, gerade so konstruiert wie die Wahnwelten der geisteskranken Massenmörder Tobias Rathjen und Stephan Balliet? Es liegt in der Natur von Massenpaniken, daß sie wie aus dem Nichts entstehen können. Ein geringer realer Anlaß genügt, wenn er den Menschen nur oft genug in den Nachrichten, ins Groteske ausgedeutelt und verzerrt, dargeboten wird.
Ist auch die neueste Panik mediengemacht? Wir hören in den Medien fast nichts anderes mehr. Die dritte Panikwelle in kurzer Zeit dämpfte anscheinend die vorhergehenden Ängste und fokussiert alle Massenemotionen auf sich. Auch sie vermag anzuknüpfen an Ereignisse und Phänomene der realen Welt. In den Köpfen der für jede Angst jederzeit dankbar bereiten Öffentlichkeit wächst auch sie sich zu einem Hirngespinst aus, das aber gravierende realwirtschaftliche Folgen hat.
Sie hat auch das Zeug dazu, die Einstellung vieler Menschen zu verändern. In Jahrzehnten hat unsere Gesellschaft sich transformierte von einer bloßen Wohlfahrtsgesellschaft hin zu einer historisch einmaligen Form von Vollkaskomentalität: Tod wurde zu einem Phänomen, das andern Leuten zustößt, irgendwo in Pflege- oder Sterbeheimen. Die Leichen schaffte man sich in „Friedwäldern“ aus den Augen. Schicksal und Lebensrisiko wurden durch eine Erhöhung irgendwelcher Prozente diverser Beitragszahlungen abgewendet.
So schien ist. Da sehen wir unvermittelt verzweifelte Ärzte in Italien, die nur für einen zweiter 40 und 60jähriger Patienten ein lebensrettendes Beatmungsgerät haben. Die Spaß-, Event- und Freizeitgesellschaft hatte immer ein gutes Gewissen, blühte doch ihre Willkommenskultur. Heute wollen Zehntausende kräftige junge Afghanen und andere Glücksuchende gewaltsam in Griechenland eindringen und mutmaßlich hier leben. Welches Paradigma gilt jetzt? Das Gutmenschentum offener Grenzen oder die Virenfurcht?
Lebensräume und Sterbensräume
Ich verlasse das von einer Angstwelle in die nächste taumelnde Narrenschiff unserer Berufsneurotiker und besinne mich im Wald des realen Lebens. Das finde ich nicht in einer der aufgeräumten Fichtenplantagen, die nach und nach von Stürmen umgelegt werden. Gerade hier finde ich sie auch: die Lebensräume, und die Sterbensräume.
Es gibt überall noch wirklichen Wald, wo sich Menschen nicht einmischen. Hier waltet noch, was man früher “die Natur” nannte. Sie waltet rein kausal. Es ist ihr fremd, sich über Absichten und Ziele Gedanken zu machen.
Zwecklos und sinnlos liegt da seit Jahren eine dicke Weide. Ihre beiden Hauptstämme fielen in verschiedene Richtungen auseinander. Sie ist noch nicht völlig tot. Sind die baumdicken Stämme auch gefallen, sprießen da und dort noch ein paar Schößlinge aus dem alten Holz. Sie haben noch nicht verstanden, daß die Zeit dieses Baumes vorbei ist.
Wo Lebendes abstirbt, schlägt die Stunde der Neuansiedler. Stämme und Äste überzieht ein flauschiger, feuchter Moosteppich. Die Würzelchen senken sich in die alte Rinde.
Weil im alten Stamm nicht mehr genug Nähr- und Abwehrstoffe gebildet werden, hat der sterbene Baum nichts entgegenzusetzen. Er wird nicht nur von außen kolonisiert, sondern auch von innen. Dicke, gefräßige Larven des Nachtfalters “Weidenbohrer” nagen sich genüßlich durchs weiche Holz. Baumpilze siedeln sich an. Die meisten unserer heimischen Käferarten leben im oder von totem Holz.
Das Leben lebt vom Tod. Es nährt sich von ihm. Daran erinnern wir uns vielleicht, wenn die ausgehamsterten Supermärkte leer sein werden. Wir sind selbst Teil dieser natürlichen Prozesse und können ihnen mit keinen Tricks entrinnen.
Wir erkennen unter der Mooshaut noch den alten Baum. Sein Astgerüst gabelt sich jetzt horizontal: früher reckte er es in den Himmel. Seine Grundordnung scheint noch intakt. Aber sie wird von innen unterminiert, ausgehöhlt, von seinen Feinden übernommen. Sie fressen sich in ihn hinein, leben von seiner Substanz, knabbern sich Bruthöhlen, vermehren sich in ihm und werden ihn nach und nach in einen Haufen ihrer eigenen kompostierten Fäkalien umwandeln.
Der äußere Schein trügt: Auch wenn die Optik noch erbittert die Grundordnung des Baumes zu verteidigen scheint, lebt, west, kriecht und krabbelt in ihm bereits ein völlig anderes Leben. Das Gerüst des Stammes und seiner Äste sinkt zur malerischen Kulisse herab, in deren Innenleben längst autonome Gesellschaften parasitischer Bewohner und Nutznießer den Ton angeben.
Ein gesunder Baum wehrt sich gegen jede Besiedlung mit chemischen Mitteln in seinem Pflanzensaft. In ihm haben Ansiedler wie Porlinge oder Parasiten wie Holzkäfer wenig Chancen. Wo sie aber überhand nehmen, ist das ein sicheres Zeichen dafür, daß der Baum krank ist oder stirbt.
Irgendwann werde ich den alten Baum wieder besuchen. Dann werde ich mit dem Fuß dagegentreten, die morsche Rinde wird zerbrechen und die ausgehöhlte Hülle wird in sich zusammenfallen.
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