Für eingefleischte Liberale befinden wir uns mitten im Sozialismus. Ihre Argumente haben etwas für sich. Es kommt immer darauf an, was man unter Sozialismus versteht. „DDR 2.0“ hört sich in ihren Ohren gruselig an. Für Linke flüstern die Worte eine Verheißung.
Für den einflußreichen Libertären Roland Baader (1940-2012) war seit Urvater Adam Smith klar: Wenn man alle Leute nur frei machen läßt, was in ihrem egoistischen Eigeninteresse liegt, entsteht aus der Quersumme allen Handelns wie von unsichtbarer Hand das Gemeinwohl. Baader rechnete vor, daß zwei Drittel aller direkt und indirekt erwirtschaftlichen Erträge in Deutschland vom Staat umverteilt werden: Sozialismus! Klarer Fall.
Für die Kollektivistin Elisabeth Wehling ist Umverteilung ein Reizwort, das sie gar nicht mag. In ihrem 2019 erschienen Buch (Politisches Framing, Wie eine Nation sich ihr Denken einredet) empfiehlt sie, wir sollten nicht mehr davon sprechen, dem Staat Steuern zu zahlen, sondern „Beiträge leisten“. Es bezieht sich nämlich immer „auf ein Kollektiv“, gemeinsam zu etwas „beizutragen.“ Die „Semantik des durch zahlen erweckten Vorstellung impliziere dagegen keine kollektive Unternehmung, sondern schlicht eine Transaktion wie zwischen Käufer und Verkäufer. Zu zahlen impliziere weder eine Gemeinschaft und Verbundenheit, noch ein kollektives Handlungsziel. Wende man das Konzept nun auf den Staat an, so lasse es ihn als eine von den Bürgern getrennte Entität erscheinen.“ Der „kollektive Handlungszweck“ werde ausgeblendet.
Aus libertärer Sicht Baaders wird der Staat nur widerwillig geduldet, um einen gesetzlichen Ordnungsrahmen zu setzen. Der Staat ist um des Einzelnen willen da. Kollektive sind Teufelszeug.
Aus sozialistischer Sicht Wehlings stehen alle erwirtschafteten Güter und Leistungen grundsätzlich dem Kollektiv zu, das über die Verteilung jederzeit „demokratisch“ befinden kann. Der Einzelne wird hier um der Gemeinschaft willen gedacht. „Die Verteilung metaphorischer und tatsächlicher Güter in unserer Gemeinschaft“, ist sie sicher, sei „ein Prozeß, in dem und über den demokratisch immer wieder neu entschieden wird. Einmal erworbene Rechte seien „nicht unantastbar.“
Baader vertrat seine wirtschaftsliberaler Ansichten als selbständiger Unternehmer und Publizist. Elisabeth Wehling ist Linguistin. 2017 erstellte sie für die ARD das berüchtigte „Framing Manual“. In ihm und begleitenden „Workshops“ erklärte sie den öffentlich-rechtlichen Medienleuten, wie sie das Denken und die Gefühle der Zuschauer durch moralisierendes Neusprech steuren können. Für das Manual und Begleitworkshops kassierte sie 90.000 €, weitere 30.000 € zahlten die ARD für Folgeworkshops.
Die vollständige Einordnung der Person in kollektivistische Unternehmungen oder ihre völlige Emanzipation und Freiheit sind Extrempositionen. Die intellektuellen Vertreter beider Seiten sind zutiefst davon überzeugt, die gesellschaftliche Wirklichkeit solle immer unbedingt ihrem persönlichen Geistesblitz folgen. Dieser, sei es der liberale Egoismus oder der sozialistische Kollektivismus, seien für alle Zeiten, alle Völker und alle Lebenslagen das richtige Patentrezept.
Beide irren sich. Es hängt immer von der jeweiligen geschichtlichen Situation eines Volkes ab, wieviel Freiheit es seinen Bürgern erlauben kann und wieviel Sozialismus gerade unbedingt nötig ist.
Selbst die eigenbrötlerischen, dickköpfigen, selbständigen und zuweiligen hartherzigen Bauern an der Nordseeküste wußten, wann sie allen Egoismus und alle Eigenbrötelei wegschieben mußten: Gegen den „blanken Hans“ kamen sie nur gemeinschaftlich an. „Wer nicht deichen will, muß weichen!“ Jeder Hofbesitzer mußte mit seinen Leuten beim Deichbau anpacken, vom reichsten Bauern bis zum ärmsten Knecht. Nur durch gewaltige kollektive Anstrengungen konnte verhindert werden, daß sich die See immer mehr vom Land holte und die Menschen gleich mit verschlang. Wer da nicht mitmachte, wurde enteignet.
Verglichen damit wuchsen den Einwohnern mancher Tropeninseln die leckersten Früchte in den Mund wie im Schlaraffenland, keiner tat ihnen jemals etwas, denn der nächste potentielle Feind war vielleicht 1000 Seemeilen weg. Wer im Paradies lebt, muß seine Freiheit nicht zugunsten kollektiven Überlebenskampfes einschränken.
Zweifellos macht es von Natur aus niemandem Spaß, seine Freiheit zugunsten des Kollektivs einschränken zu lassen. Oft in der Geschichte waren es ausgemachte Fieslinge, die angeblich im Namen aller sprachen, befahlen und – umverteilten: gern auch in die eigenen Taschen.
Manchmal aber geht es nicht anders. Wenn der Feind an der Grenze steht und das Land zu verheeren droht oder eine Sturmflut naht, dürfen nicht alle plötzlich ihre Freiheit entdecken, in alle Himmelsrichtungen auseinanderzulaufen und dabei auszurufen: „Hiermit kündige ich den Gesellschaftsvertrag fristlos!“
Wir haben in Deutschland historische Situationen erlebt, in denen Menschen nur unter Anspannung aller kollektiven Kräfte eine Chance hatten, zu überleben. Wenn das Leben, die Freiheit und das Wohlergehen jeder einzelnen Person von einer gemeinschaftlichen, gleichförmigen Anstrengung abhängt, muß ein Volk zu kollektivem Denken und Handeln fähig und willens sein. Dann verteidigt jeder Einzelne mit dem Kollektiv zugleich sich selbst.
Solange uns aber keiner etwas tut, muß das Pendel zur Freiheit des Einzelnen ausschlagen. Wenn der Grund, uns zu kollektivistischem, gleichförmigen Leben zu zwingen, in nichts besteht als der Machtgier herrschender Kollektivisten, sollten wir diese abschütteln wie der Hund die Flöhe. Wir brauchen keinen Sozialismus, solange nicht höchste Not einen kollektiven Kraftakt erzwingt.
Weil kein Menschen fröhlich und willig gehorcht oder mit dem Ertrag seiner Arbeit wildfremde Leute durchfüttert, versuchen die Verwalter des sozialistischen Erbes uns immer wieder Angst einzujagen. Unsere Angst vor einer angeblichen kollektiven Bedrohung befestigt unsere soziale Disziplin und ihre Herrschaft über uns. Darum erzeugen sie eine Panikwelle nach der anderen: Rentenangst, Angst vor sozialem Abstieg, Klimafurcht, Angst vor „Rechts“, Panik vor Corona. Sie lassen sich immer wieder etwas anderes einfallen.
Ein bekannter Sozialist redete einst von einem Feind, der unser Unglück sei, und rühmte seine Massenorganisationen, welche die Menschen von Jugend an aus erzieherischen Gründen durchlaufen mußten. Am Ende seiner Rede sagte er über sie: „Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben!“ –
Wir werden nicht mehr frei werden, solange wir nicht damit aufhören, Angst zu haben.
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