Das Erinnern als subversiver Akt
Eine Lieblingsphrase der 1968er Revoluzzer war die “gesellschaftliche Relevanz”. Worin sie nicht enthalten war, das taten sie als unwichtig ab. Sie sahen diese Relevanz in allem, was ihr einseitiges Weltbild stützte und sich ihrer Erzählung “narrativ” einfügte – wie sich sich heute ausdrücken.
Erzählungen, die das Gegenteil besagen, enthalten sie uns nach ihrer Machtergreifung gern vor. Was ihrer Ideologie zuwiderläuft, wird verdrängt, verboten und schließlich vergessen. Die Wiedererinnerung dessen, was früher galt und vielleicht immer gilt, ist nicht bloßer Zeitvertreib seelischer Mußestunden und innerer Erbauung. Es ist ein subversiver, protorevolutionärer Akt. In der Erinnerung liegt das Geheimnis, wie wir uns von diesen Plagegeistern befreien können.
Die verführerischen Massenmedien stehen unter Kontrolle unserer mentalen Berufskontrolleure. Wer selbst liest, kann sich ihnen entziehen. Ihr Reich sind Fernsehen und Rundfunk, die zu Regierungsverlautbarungsmedien verkommen sind.
Ein Reich, in dem Bücher keine Rolle spielen, ist ein verlorenes Reich.
Markus Heitz, der Triumph der Zwerge, 2015, S.220.
Wir finden unsere reiche Vergangenheit mit ihren prallen geistigen Alternativangeboten im Buch wieder. Lassen Sie die Finger von zeitgeistverfärbten Büchern über die Vergangenheit! Die Pforte ihr ihr Reich finden Sie nur, wenn sie den Erzählungen vergangener Geschlechter selbst zuhören.
Die Autobiographie öffnet das Tor in die alternative Realität
Unsere Altvorderen schrieben oft viel hübscher, als es viele heutige “Medienleute” noch vermögen. Sie machten auch weniger Grammatikfehler. Dafür sorgte einst ein solider Schulunterricht. Wir fragen einfach mal einen alten Lehrer.
Claus Clausen war 1796 geboren und erinnert sich an seine Schulzeit, in der auf seiner Dorfschule in Angeln vieles noch nicht unterrichtet wurde:
Von deutscher Sprachlehre u. den gemeinnützigen Wissenschaften wurde damals nichts gelehrt, gelegentlich ein Wort über Lufterscheinung u. bei Dictirübung etwas von Rechtschreibung. Auswendig wurde fleißig gelernt: Der kleine u. große Katechismus, Freitags das Evangelium u. Montags ein Gesang. Vor dem Weihnachtsfeste lernten wir eine Menge sogenannte Weihnachtensprüche – prophetische Weissagungen von Jesu. Oft habe ich mir diese seine Sammlung davon gewünscht.
Claus Clausen, Ein Leben im Dienste der Schule, Meine Biographie treu von mir selbst verfaßt, Uslar 2021, S.33. 978-3-933334-30-5
Claus Clausen besuchte das Lehrerseminar in Tondern und versah den Schuldienst bis zu seinem Tode. Lehrer zu sein war zunächst ein Broterwerb, bald aber Berufung und Beruf. Es gab noch keine Jobs und keine Streiks. Lehrer zu sein hieß für Claus Clausen auch, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.
Seinen Söhnen gewidmet
Seit der frühen Neuzeit gab es im deutsch-römischen Reich elterliche Erziehungsschriften. In ihrer Tradition steht die seinen Söhnen gewidmete Autobiographie Claus Clausens. Erziehungsschriften für junge Fürsten stehen in der Tradition frühneuzeitlicher Lehrdichtung. Sie wurden sowohl von Fürsten selbst wie auch von Theologen oder Juristen verfaßt. An den Thronfolger richteten sie Ratschläge und sollten Kontinuität der Regierungsgeschäfte und ihrer religiösen und politischen Ausrichtung sichern.
Clausen hat wohl nie eine solche Erziehungsschrift gelesen. Was er als Schüler und Seminarist las, teilt er uns mit. Es war fachbezogenes Grundwissen seiner Zeit. In der Sache ist seine Autobiographie ein Lehre für seine Söhne. Er legt ihnen sein Innerstes Wesen offen und als Vermächtnis ans Herz. Würden sie es selbst verinnerlichen und ihm nachleben, hätte er seine irdische Aufgabe erfüllt.
Was er von seinem Leben mitteilt, gibt Aufschluß über den Kern der Persönlichkeit des Autors selbst. Ohne genaue Schilderung seines Herkommens und seiner Kindheit würden wir es nicht verstehen. Historische Ereignisse, die nicht diesem Zweck der Autobiographie dienen, läßt er weg oder erwähnt sie nur am Rande. Er bezieht keine Stellung zu dem napoleonischen Eroberungskrieg, der französische Soldaten bis in sein kleines Dorf in Angeln führte. Daß im Befreiungskrieg Kosacken im Dorf waren, ist ihm nur eine kurze Anekdote wert, aber keine Stellungnahme zu den großen Geschehnissen seiner Zeit. Daß ein Sohn 1849 im 1. Deutsch-Dänischen Krieg für Dänemark eingezogen wurde, ist für ihn kein weitergehendes Thema.
Eiun Brevier zum glücklichen Leben
Clausen schildert seinen Söhnen sein Leben als Beispiel dafür, wie sie glücklich und zufrieden leben können. Jede Seite enthält eine gute Lehre. Entgeht er manchmal nur knapp einem unglücklichen Tod, lehrt uns das, wie sehr Gott ihn behütet. Clausen katechisierte seit seiner Seminaristenzeit, und in seiner Autobiographie katechisiert er in gewisser Weise weiter. Dabei geht er aber viel geschickter vor als bei der Art herkömmlichen Katechisierens, das er in seiner Jugend vorgefunden und gelernt hatte.
„Heutzutage“, schrieb ein Lehrer 1819, „verstehen wir unter Katechisiren den gesprächsweisen Unterricht in den Glaubens- und Sittenlehren der Religion.“[1] Der Reformer Pestalozzi nannte es verächtlich „papageienartiges Nachsprechen unverstandener Töne“: „Die ursprüngliche Unterrichtsweise, die man katechisiren heißt, war nichts weniger als eine reine Verstandesübung; es ist eine bloße Wortanalytik verwirrt vorliegender Sätze, und hat in soweit als Vorbereitungsgeschäft zur allmähligen Klarmachung der Begriffe das Verdienst, daß es die getrennten Wörter und Sätze, dem Kinde unverwirrt zur festern Anschauung, einzeln vor Augen legt.“[2] So mag auch Clausen es ursprünglich gelernt haben. Für jedes Verständnis grundlegende Begriffe mußte er seinen Schülern einpauken, zumal diese mit ihrem Angeler Platt schon sprachlich kaum imstande waren, einen Text der Lutherbibel zu verstehen.
Gemessen am Maßstab seiner Lebenserinnerungen ließ Clausen die Epoche solchen stupiden Einpaukens weit hinter sich. Was er seinen Söhnen als Summe seines Wesens ans Herz legt, vermittelt er durch sein Vorbild, das er ihnen im Leben bot und aufgeschrieben hinterließ. In seiner ganzen scheinbaren Schlichtheit wirkt es doch so tief anrührend, daß selbst ein Atheist bedauern mag, daß es den Gott gar nicht gibt, auf den Clausen sein Leben so fest gründet. In dessen Reich gelangt man nämlich, Jesu zufolge, nur als ein Kindlein und nicht mit dem rationalen Denken eines Erwachsenen.
Die Lebensbeschreibung Clausens erinnert uns daran, wie unsere Vorfahren es vermochten, glücklich zu leben. Seine gesamte Persönlichkeit ruht gewissermaßen in sich selbst und ihrerseits wiederum auf dem sicheren Gefühl, in der Gnade seines Gottes geborgen zu sein, was auch immer geschieht.
Wie das Pursuit of happiness Selbstfindungskurse nach sich zieht
Es ist ein Lebensgefühl, das vielen modernen Menschen vollständig verlorengegangen ist. Hin- und hergerissen von verschiedensten Reizen unserer schnellebigen Zeit haben viele gleichsam sich selbst verloren. Sie müssen erst wieder „ihre Mitte finden“, „Selbstfindungskurse“ absolvieren und wie es sonst modisch heißt. Die industrielle Massengesellschaft sucht das Glücksversprechen einzulösen, mit dem der politische und ökonomische Liberalismus angetreten war: pursuit of happiness nannte es Thomas Jefferson (1743 bis 1826). Dieses Versprechen verstand man vor allem ökonomisch und suchte es bis heute im massenhaften Konsum, einer Funktionsvoraussetzung der Industriegesellschaft.
Eine weitere, heutige Funktionsvoraussetzung bildet die berufliche Flexibilität: die jederzeitige Mobilität und Austauschbarkeit jedes Einzelnen. Sie verwandelte die vorindustrielle Lebenswelt eines Claus Clausen binnen 200 Jahren weitgehend in eine Massengesellschaft, deren jeder, losgelöst von seinen heimatlichen und familiären Bindungen, häufig auf sich selbst gestellt ist und zudem oft unter extremem Leistungsdruck steht.
Fast gesetzmäßig nehmen mit Kappung der gesellschaftlichen Verwurzelungen und der Atomisierung der Bevölkerung neurotische und depressive Auffälligkeiten und politische Extremismen zu. Wir sehen heute eine in sich vielfach gespaltene Gesellschaft. Je nach objektivierbarem Interesse und subjektiver Meinung haben sich Lager herausgebildet und in ihren Echokammern abgekapselt, ohne sich wechselseitig noch verstehen zu wollen und zu können.
Die Selbstbiographie Clausens bietet uns den radikalen Gegenentwurf: Das ländliche Angeln kannte vor 200 Jahren keine gespaltene Gesellschaft. Seine Bewohner teilten dieselben christlichen Anschauungen. Diese lernten sie im Elternhaus, verinnerlichten sie in der Schule und behielten sie ihr Lebtag. Glaubenskriege oder ideologischen Haß kannten sie nicht. Auch Dänen und Deutsche traten sich nicht feindselig als solche gegenüber. Unterschiede der Mentalität Dänen, (Nord-)friesen und Angeln wurden schon deutlich bemerkt, aber sie gipfelten nicht in Konflikten zwischen den Volksgruppen.
Emanzipation oder Heilsgewißheit?
Der Kontrast zwischen modernem emanzipatorischen Denken und der demütigen Heilsgewißheit Clausens könnte krasser nicht sein. Er schildert sich als Jungen mit schwachem Selbstbewußtsein und von mancher Lebensgefahr heimgesucht. Sein fester Glaube an Gottes Schutz und Gnade läßt ihn jede Rettung und glückliche Fügung als Gottes Willen interpretieren. Sein Glaube festigte sich durch jede Wendung seines Schicksals weiter.
Empfangen hat Clausen seinen festen Glauben durch elterliche Erziehung, die er uns detailliert schildert. Sie gründete auf Gottvertrauen, pflichttreue Arbeit, Redlichkeit, Ehrlichkeit, Dankbarkeit, Nützlichkeit für die Allgemeinheit und einen Abscheu vor „tierischen Lüsten und Leidenschaften“. Während Verbrechen nach heute vielfach vertretener Ansicht Schuld und Folge „gesellschaftlicher Verhältnisse“ sein soll, vermutet Clausen bei einem „verlorenen Menschen“ die Frucht einer vernachlässigten Erziehung „weil die bösen Regungen nicht im Keime erstickt wurden, weil die Eltern ihn nicht als Kind bei Zeiten straften, entweder aus Affenliebe zu weich, oder aus eigner Schlechtigkeit gleichgültig waren“.
Während moderne Ideologie eine Voraussetzung für menschliches Glück in seiner Emanzipation sucht, fand Clausen es in deren genauem Gegenteil: der festen Bindung an Gott. Emanzipation bedeutete sprachlich zunächst das Gegenteil einer Besitzergreifung, nämlich das Loslassen von etwas Gebundenem, zum Beispiel das Freilassen eines Sklaven. Später verband sich mit der politischen Forderung nach Emanzipation die Vorstellung, Menschen seien durch Herrschaftsverhältnisse gebunden und bedürften ihrer Befreiung. Jede innere Bindung an eine Religion oder Ideologie betrachtete man letztlich als Ergebnis gesellschaftlichen Zwanges, den es radikal zu beseitigen gälte.
Clausen empfand genau umgekehrt. Erst die Bindung an Gott und die feste Überzeugung von religiösen Lehren und Tugenden gab seinem ursprünglich schwachen Selbstbewußtsein Kraft. Es nahm ihn die Angst vor den Gefahren und Zufälligkeiten des menschlichen Daseins. Sich von alledem zu emanzipieren, hätte Clausen als sinnlose Verirrung betrachtet. Nicht auf Freisein von Glauben und Moral gründete er sein Leben, seinen Halt und seine Zuversicht, sondern auf seine Bindung.
Durch diese innere Bindung hatte er auch sein Leben in einer Weise im Griff, von der viele moderne Emanzipierte nur träumen können. Während er Zufriedenheit und Glück ausstrahlt, jagen diese beidem oft vergeblich hinterher: Sie wittern überall Herrschaftsverhältnisse, von denen sie sich oder andere emanzipieren müssen, beanstanden „Privilegierungen“ und Ungleichheiten und sind dabei notwendigerweise unzufrieden.
Das ist jeder, dessen Lebensumfeld in unversöhnlichem Widerspruch zu seinen Wunschvorstellungen steht. Beide, Menschen wie Claus Clausen und moderne, haben eine Weltanschauung tief verinnerlicht: Clausen die christlich-religiöse, viele Moderne eine Ideologie, die überall Emanzipationen fordert. Clausen lebte zufrieden und glücklich in der geordneten Welt seines Gottes. Wer aber in der Welt nur schreckliche Unterdrückung am Werk sieht und die Unterdrückten aller Herren Länder emanzipieren will, wird niemals zufrieden und glücklich sein, weil seine Utopie nicht erfüllbar ist. Seine Dauerempörung zielt auf Verwirklichung in der realen Welt; die christliche beschied sich mit dem Heilsversprechen im Jenseits.
Für einen modernen Emanzipierten ist die Vorstellung ein Greuel, daß Clausen als Kind auch mal eine Ohrfeige bekam und als Lehrer auch schon mal zum Stock griff. Er fühlt sich wie ein Gärtner:
Er ging um jedes Blumenbeet
Claus Clausen, Ein Leben im Dienste der Schule, S.212
zog alles Unkraut aus.
Er band ans Stäbchen schlank u. weiß
so manches zarte schwache Reis
u. zog ein Bäumchen draus.
Angebunden an das Gute sah er sich selbst, und auch bei Sturm und Wind („Auf einmal brach, wie Sturm u. Wind..“) verliert er nicht die Zuversicht. Clausens Lebenswelt ist versunken. Sie ist uns heute so fern, daß viele ihn gar nicht mehr begreifen würden. Wer seine Biographie aber liest, wird ihn emotional verstehen, auch wenn er Clausens Glauben nicht teilen kann. Nicht in der Freiheit, sondern in der Bindung hat Claus Clausen sein Glück gefunden.
[1] Johann Michael Leonhard, Theoretisch-practische Anleitung zum Katechisiren, Wien 1819, S.2.
[2] Heinrich Pestalozzi, Pestalozzi’s sämmtliche Schriften. 5. Band, Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, Stuttgart und Tübingen bei Cotta 1820, S.55, 54.
Die Autobiographie ist am 11.2.2021 erstmals erschienen und kostet 25 €. Sie kann im Buchhandel bestellt werden.
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