Von schuldlosen Mördern und schuldigen Politikern

Schizophrenie wäre die letzte Erkrankung, die ich mir würde zuziehen wollen. Das „basale Ich“ der Kernpersönlichkeit löst sich auf. Das Ich zerfällt in Fragmente. Eigene Gedankentätigkeiten spalten sich ab. Der Kranke nimmt sie als „Stimmen“ Dritter wahr. Er lebt in einer psychotischen Wahnwelt.

Einem Juristen und Strafverteidiger bleibt es oft nicht erspart, lange Gespräche mit Erkrankten zu führen. Das ist menschlich anstrengend und erfordert viel professionelle Distanz. Wenn die menschliche Anteilnahme groß ist, wächst auch das Grauen:

Ein Kroate, den ich jahrelang als lieben und gut katholischen Mann kannte, hatte unvermittelt seine Freundin fast umgebracht. Sie hatte sich mit knapper Not aus der Wohnung geflüchtet. In der Gewahrsamszelle beim Ermittlungsrichter erzählte er mir verzweifelt, der kroatische Geheimdienst wolle ihn umbringen. Als draußen auf dem Flur Geheimdienstler gewesen seien, hätte er unvermittelt gewußt, daß auch die Frau in seinem Bett ihn umbringen wolle.

Auf meinen Einwand, er habe doch wohl gesehen, daß das seine Freundin war: Natürlich habe sie deren Gesicht gehabt. Trotzdem habe er gemerkt, daß der Geheimdienst sie geschickt habe. Der Mann wurde natürlich als schuldunfähig freigesprochen und verbrachte lange Zeit in Heilbehandlung.

Eindrucksvoll zeigte sich mir die Heimtücke dieser Krankheit im Fall eines Psychiaters, der anfing, in seiner Nachbarschaft Flugblätter gegen den Zionismus zu verteilen, auf dem Weg durch den Bahnhof seiner Stadt bemerkte, daß der Mossad ihn beobachtete und den Brand des Postamtes darauf zurückführte, der Gemeimdienst habe an ihn gerichtete Post vernichten wollen. Der Mann tat niemandem etwas zuleide, nur kamen bald ein paar Kollegen von der Ärztekammer zu ihm, und er durfte nicht mehr praktizieren. Selbst ein Fachmann kann Wahnvorstellungen bei sich selbst nicht erkennen.

Wenn man beruflich immer wieder mit Menschen umgehen muß, die paranoide Wahnvorstellungen haben, muß man tief in ihr oft von furchtbaren Ängsten geschütteltes Seelenleben blicken. Auch ohne selbst Psychiater zu sein, vermag man die Symptome der Krankheit zu erkennen, wenn sie einem förmlich ins Gesicht springen.

Tobias Rathjen, der angeblich rechtsextreme Täter von Hanau, brachte zuletzt seine eigene Mutter und dann sich um. Stephan Balliet, der angeblich rechtsextreme Täter von Halle, ermordete im Endeffekt nur deutsche Landsleute. Wer aber am Schluß seine eigene Mutter umbringt, lebt geistig nicht mehr in derselben Welt wie wir. Er ist geistig ebenso umnachtet wie jemand, der halt mal eben ein paar Landsleute erschießt, wenn die Tür zur Synagoge leider nicht aufgeht.

Wenn man mit solchen Kranken spricht, darf man sich nicht in ihre Wahnwelt hineinziehen lassen. Man kann mit niemandem ernsthaft darüber diskutieren, daß nicht der kroatische Geheimdienst vor der Tür steht, daß die Freundin im Bett ihn nicht umbringen will, daß es keine zionistische Weltverschwörung gibt und daß der amerikanische Geheimdienst keine Telepathen zur Gedankenkontrolle hat. Es ist dem Kranken nämlich unmöglich, das zu glauben.

In die Wahnwelt hineinziehen läßt sich jeder, der sie für bare Münze nimmt. Den Kranken als Aktivisten für die Menschenrechte anzusprechen, weil er gegen Geheimdienstkontrolle kämpft, ist wie Schattenboxen gegen die wahnhaften Schatten im Kopf des Kranken. Man darf den im Kopf eingesperrten Ausgeburten des Wahnsinns auch nicht dadurch Ausgang geben, daß man sie mit Etiketten aus der politologischen Wortküche adelt. Wer im Wahnsinn Menschen umbringt, ist nicht im politischen Sinne extremistisch, nur weil seine Hirngespinste Ähnlichkeit mit real existierenden Phänomenen aufweisen.

Ein Skandal ist es allerdings, daß die Fachleute vom Bundeskriminalamt nicht hellhörig wurden. Ihnen hatte Tobias Rathjen sein Herz schon mehrfach in langen Schreiben ausgeschüttet, teils wohl wortgleich mit seinem jetzigen „Bekennerschreiben“.

Der mutmaßliche Terrorist von Hanau adressierte bereits vor Monaten ein Schreiben an den Generalbundesanwalt. Es ist in weiten Teilen mit seinem Bekennerschreiben identisch. Nun bestätigt die Behörde den Eingang.

Jonas Müller-Töwe, t-online 21.2.2020

Daß hier jemand schon an der Grenze vom Querulantenwahn zur gemeingefährlichen Paranoia stand, hätte unbedingt überprüft werden müssen. Dafür gibt es Amtsärzte. Hätte das BKA gehandelt, könnten Täter und Opfer noch leben.

Wenn die Grünen oder die FDP seit Jahren vor einem Überwachungsstaat warnen und Geheimdiensten keine zusätzlichen Befugnisse mehr zugestehen wollen, besteht keinerlei Kausalzusammen zu den Wahnvorstellungen des Hanauer Mörders über die Macht von Geheimdiensten. Paranoiker sind nicht kreativ und erfinden sich keine nie gesehenen Monster. Die Teufel in ihrem Kopf nehmen sie aus der Realität. Bevorzugt werden immer wieder Geheimdienste oder sich heimlich verschwörende Hintermänner, Drahtzieher und Machthaber.

Der Neuropsychologe und Psychiater Prof. Wolfgang Meins faßt das so zusammen:

Tatsächlich aber läßt die Tat einer Person, die unter dem Einfluss eines wirren Verfolgungswahns, einhergehend mit einem hochgradigen Realitätsverlust, überhaupt keine Rückschlüsse über dessen eigentliche Gesinnung zu. Die Art des Wahnthemas wird natürlich beeinflußt durch die beherrschenden gesellschaftspolitischen Themen: Früher ging es mehr um Religion, im Kalten Krieg dann um CIA, KGB und Stasi. Aber ansonsten folgt das wahnhafte Erleben den eigenen Gesetzen der zugrunde liegenden Krankheit.

Wolfgang Meins, Der Täter von Hanau, eine Diagnose, 21.2.2020

Es wäre Torheit, die Grünen oder die FDP für die Tat von Hanau verantwortlich zu machen, nur weil sie auch geheimdienstkritisch eingestellt sind. Ebenso töricht ist es, die AfD für eine im Wahnsinn begangene Wahnsinnstat zu bezichtigen, nur weil sie sich vordergründig gegen Ausländer richtete und damit eine rechtsterroristisch motiviert Tat wäre, wenn – ja, wenn! – sie nicht ganz einfach dem Irrsinn geschuldet wäre. Auf diesen Irrsinn läßt sich kongenial ein, wer ihn als rechtsextremistisch bezeichnet statt als Irrsinn.

Tobias Rathjen klärte uns darüber auf, daß der Geheimdienst unsere Gedanken ausspioniert.

Der Täter von Hanau würde sich freuen, daß ihn endlich so viele Leute ernst nehmen. Er würde jeden Neuankömmling in seiner privaten Realität herzlich begrüßen. In ihr geht es so zu:

„Er sei allerdings etwas Besonderes, einige bezeichneten ihn als „Genie“, denn als Einziger habe er die Überwachung bemerkt.

Es wird dann noch angedeutet, dass diese fremde Macht in Form von (halluzinierten) Stimmen mit ihm kommuniziere. Diese „Schattenregierung“ habe ihn und sein Umfeld beeinflußt durch Gedanken-Kontrolle und Telepathie. Wieder klingen Größenideen an, wenn geäußert wird, dass er auch für die Terroranschläge vom 11. September verantwortlich sei, wobei man ihm entsprechende Träume „eingespielt“ habe. In diesem Stil geht es endlos weiter. Deutlich wird dabei vor allem auch das, was die Psychiatrie als Denkzerfahrenheit bezeichnet: Das Denken und Sprechen verliert für den Zuhörer seinen verständlichen Zusammenhang.

Besonders deutlich wird das an den Stellen, in denen es um seine „Abneigung“ gegen bestimmte Völker geht, die Vernichtung großer Teile der Weltbevölkerung und, daß er sich eine „Halbierung“ der deutschen Bevölkerung „vorstellen“ könne. Darüber hinaus klingt in wirrer Form auch an, die Erde vor ihrer Entstehung mittels einer „Zeitschleife“ vernichten zu wollen, um das spätere „millionenfache Leid“ zu vermeiden. Aber zu dieser Rettung sei nur ein Teil der Menschheit befähigt, der andere Teil müsse vorher eliminiert werden.

Wolfgang Meins, Der Täter von Hanau, eine Diagnose, 21.2.2020

„Ganz wie im Programm der AfD – nicht wahr?“, witzelte jemand heute auf Facebook. Er brachte damit die Lächerlichkeit derer auf den Punkt, die die AfD in einen Ursachenzusammenhang mit Hanau stellen. Leider ist der Anlaß aber nicht witzig, sondern traurig:

Schizophrenie ist eine grauenhafte Krankheit, widerwärtig waren die Bluttaten von Hanau, und ekelhaft sind die durchsichtigen Versuche von Politikern und Medien, sie parteipolitisch auszuschlachten. Der Täter von Hanau handelte schuldlos. Die Täter in Politik und Medien können ihre Hände hingegen nicht in Unschuld waschen. Sie wissen, was sie tun.

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