Wer bist du? oder Was bist du?

Einer afp-Meldung zufolge hält eine Mehrheit von 61% unsere Gesellschaft für zerrüttet und sieht eine „Spaltung der Gesellschaft“.[1] Zwei Lager scheinen sich in einem geistigen Bürgerkrieg unversöhnlich gegenüberzustehen. Sprachlos und sich mißverstehend beargwöhnen sich nicht nur in Deutschland zwei geistige Strömungen. Doch nur wer seinen Gegner durch und durch verstanden und begriffen hat, vermag ihm standzuhalten.

Der Soziologe nickt wissend und zeigt seine Statistiken vor. Die geistigen Strömungen von Stadt und Land, manchmal von mehr oder weniger wohlhabend oder gebildet, fließen oft in unterschiedliche Meere. Der Politologe erklärt uns dann gern, zu welchen verschiedenen Gesellschaftsmodellen die geistigen Grundströmungen führen können. Aber alle diese Disziplinen sind nicht hilfreicher als eine Biologie in ihren Kinderschuhen, die Elefanten und Hamster für „gleich“ hält, weil beide Pflanzen-Freßsäcke sind, unterschieden nur, weil der eine in Afrika wohnt, der andere in Deutschland. Zu einem tieferen Verständnis, warum Menschen so unterschiedlich denken und wie dieses Denken strukturell funktioniert, tragen sie nicht bei.

Wenn Millionen gut gebräunter Orientalen nach Deutschland strömen, entlocken sie gewissen ältlichen Damen Schreie blanken Entzückens. Wer dagegen die Sozialkassen und Opferstatistiken im Vordergrund sieht, schreit eher entsetzt. Willkommen oder nicht willkommen: Das ist hier die Frage, an der die Geister sich scheiden.

Warum sie sich scheiden und wie das Denken der einen Seite zum diametral anderen Ergebnis kommen kann als das der anderen, läßt sich auch literarisch nachverfolgen. In der phantastischen Literatur bündeln sich wie in einem Brennglas philosophische Konzepte. Sie war immer ein Experimentierfeld neuen Denkens und manchmal Rammbock fundamentaler Gesellschaftskritik.

So bildeten die nach dem Krieg verfaßten Romane Tolkiens „Der Herr der Ringe“ auch ein Plädoyer für einen romantisierenden Freiheitsbegriff, für ein in Gut und Böse klar geschiedenes Weltbild und gegen „dumpfen Militarismus“. Die „Ork“-Heere „Mordors“ waren Vorläufer die Imperiums-Truppen in „Krieg der Sterne“, und ihr finsterer Anführer Sauron die Inkarnation des Bösen, seelenverwandt dem Erzfeind der Jedi-Ritter. So spiegelte der Roman das alliierte Weltbild der Nachkriegszeit.

Tolkiens Orks konnten gar nicht anders sein als dumm und böse. Das entsprach ihrer Natur. Eine friedliche Einwanderung von Orks ins Auenland wäre undenkbar. Linksliberale Fantasy unserer Tage macht dieses Undenkbare denkbar. „Der große New-York-Times-Bestseller!“ bewirbt der Heyne-Verlag einen Roman des homosexuellen Travis J. Klune

Auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst gerät der Autor ins Straucheln.

In „Mr. Parnassus Heim für magisch Begabte“ werden Kinder mit sehr speziellen Eigenschaften abgesondert und aufbewahrt: ein Elementargeist, ein Gnom, und sogar ein kleiner Teufelsbraten: „Lucys“ Vater war Luzifer, und eine bürokratische Heimbehörde etikettiert klar: „Er ist böse. Mag sein, daß er nicht darum gebeten hat, aber so ist es nun einmal. Seine Abstammung macht das unumgänglich. Er trägt das Böse in sich. Schon per definitionem.“[2]

Beim Helden der Geschichte kommt er damit schlecht an: „Er ist ein Kind, das der Finsternis entsprungen ist. Deshalb muß er sich aber nicht weiterhin so entwickeln. Und das wird er auch nicht. Nicht in diesem Umfeld.“ Als von der Behörde entsandter Inspekteur des Heims, verliebt der Romanheld sich in den Heimleiter und feiert mit diesem ein rosarotes Happyend. Frieden, Toleranz und die Guten siegen auf ganzer Linie über bornierte Bürokraten, weil all die süßen, kleinen Bösewichter sich am Ende als magisch begabte, aber liebenswerte kleine Gutmenschlein entpuppen. Und selbst der kleine Teufelsbraten ist „mehr als das Etikett, das sie ihm verpaßt haben, ganz egal, woher er stammt.“[3]

Erhaben über solchen moralinsüßen Romankitsch bringt der Australier Joel Shepherd die Streitfrage auf ihren moralischen Punkt: Kommt es darauf an, wer jemand ist, oder was jemand ist? Entscheidet die individuelle Persönlichkeit, oder kommt es auf ein substanzielles Sein an?

Entscheidet, was jemand ist, oder wer er ist?

Shepherds Androidin-Trilogie spielt 500 Jahre in der Zukunft, und seine Heldin ist durch und durch künstlich. Sie ist aber ein so perfekter Nachbau eines Menschen, daß sie auch seine Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte teilt, dessen Leistungsfähigkeit aber als als für den Krieg entwickelte Tötungsmaschine weit übertrifft. Darf sie als künstlicher Mensch verlangen, wie ein Mensch behandelt zu werden? Ist wichtiger, „wer sie ist“, fragt sie, oder „was sie ist“? [4]

Zweiter Band der grandiosen Trilogie von Joel Shepherd: Kommt es darauf an, wer man ist oder was man ist?

„Menschlichkeit“, beantwortet Shepherd die Frage, hat „nichts damit zu tun, aus welchem Material sie bestand. Sondern damit, wer sie war und was sie tat.“[5] Und da läßt seine Heldin es an nichts fehlen. „Ihr Gehirn lief in allen denkbaren Bereichen mit höchster Drehzahl, und da war es ja kein Wunder, daß es mit ihrer Libido nicht anders bestellt war.“[6]

Konsequent dekliniert der Autor durch, daß es auf das Wer einer Person ankommt und nicht auf das Was der Substanz, aus der er gemacht ist. In dieser Grundhypothese trifft er sich mit Travis Klune, dessen „magische Kinder“ genetisch Teufel, Lindwürmer oder gar Yetis sein mögen, aber alle wunderbaren Eigenschaften vollendeter „Menschlichkeit“ in sich vereinen.

Solche Romane arbeiten all die inneren Widersprüche und die innere Zerrissenheit einer Einwanderergesellschaft ab, die keine gemeinsame Antwort mehr auf die ewige Frage nach ihrer Identität findet. Auf ein relativ homogenes Leservolk verwandter Abstammung muß der Versuch skurril wirken, selbst Teufelskinder und Roboter zu „integrieren“. Das gelingt, wenn man von allen substanziellen Eigenschaften abstrahiert und nur ein abstraktes Menschsein gelten läßt, dessen einziges Merkmal ein hoher normativer Anspruch ist.

Der Denkfehler

Die geforderten Normen sind ethische Postulate: „Hilfreich sei der Mensch, edel und gut“, und wie all jene schönen Merksprüche aus Urgroßmutters Poesiealbum lauteten. Nicht der genetisch „Reinrassige“ ist der wahre Mensch, sondern der Gutmensch. Denn merke: Im tiefsten Herzen sind alle Menschen „gut“ und werden allenfalls durch miese gesellschaftliche Verhältnisse und Vorurteile zu bösen „gemacht“.

Philosophiegeschichtlich läßt diese Hypothese sich auf Rousseau zurückführen. „Der Mensch“ sei „von Natur aus gut“ basiert auf einer tieferen Ebene auf dem dichotomischen Weltbild, dem archaischen Erbe vorderasiatischer Religionen, das im Judentum überwinterte und integraler Baustein der abrahamitischen Religionen geworden ist: Es scheidet die Welt in Gut und Böse. Von Adam und Eva im Paradies, Rousseaus Menschen im glücklichen Urzustand bis hin zum modernen Gutmenschen und seinen fiktionalen Romangestalten sind wir alle die Guten an sich.

Leider leben aufgeklärte Menschen, über hundert Jahre nach Nietzsche, „jenseits von Gut und Böse“. Scharfsinnigen Philosophen ist nicht entgangen, daß „Gut und Böse“ nur hohles Wortgeklingel auf hoch abstraktem Niveau ist, aber bestens geeignet, Ansprüche auf Herrschaft und Gehorsam darauf zu stützen.[7] Es gibt in der Realität keine objektivierbare menschliche Eigenschaft, „gut“ oder „böse“ zu sein.

Die Alternativfrage, wer oder was jemand ist, stellt sich gar nicht erst, wenn das komplexe Phänomen „Mensch“ immer aus beiden Komponenten besteht. Wer jemand ist, schließt immer auch in sich ein, was er ist. Man kann einen Menschen nicht sinnvoll nur aus Merkmalen seiner Persönlichkeit erklären. Gut und schön, daß er vielleicht ein netter Mensch ist. Aber was er ist, zum Beispiel eine Frau, liegt dem voraus. Was wir sind, sind wir schon lange bevor wir ein Wer als Person sind.

Was wir sind und wer wir sind erkennen wir an einer Fülle von Eigenschaften, teils individuellen, teils substanziellen. Es bleibt den Ideologen der einen oder anderen Fraktion vorbehalten, die jeweils einen oder die jeweils anderen nicht gelten zu lassen. Eine Ideologie interessierte sich gar nicht dafür, wer jemand ist, weil ihm eine substanziell minderwertige Blutmischung angedichtet wurde. Die anderen verfallen ins gegenteilige Extrem. Sie unterscheiden nicht nach Blut, Genen, Herkunft oder Geschlecht, sondern nur nach moralischen Eigenschaften. Beide einseitigen Sichtweisen können uns in Teufels Küche führen.

Im Weltbild von Gutmenschen darf der Böse nicht fehlen (Rabanus Maurus 1425). Letzte Konsequenz ist die Verteufelung nicht Rechtgläubiger: Hier gehen die Guten in die Kirche, die Bösen in die Synagoge.

Es gibt viele menschliche Eigenschaften, physische und manchmal auch auf Physis beruhende psychische. Das Was und das Wer einer Person gehören immer zusammen. Aber in dieser komplexen Realität leben Gutmenschen nicht. Hat der Fuchs eine Gans gestohlen, hatte er aus ihrer Sicht einfach mal einen schlechten Tag oder eine schwierige soziale Herkunft. Aber er ist und bleibt, was er ist: ein Fuchs! Daß auch Menschen, ohne moralisch gut oder böse zu sein, höchst verschieden sein und daß ihre existentiellen Interessen miteinander in aufaufhebbaren Konflikten gegeneinanderstehen können, sehen sie nicht. Sie stehen, mit einem Bonmot Karl Lagerfelds formuliert, zwar fest mit beiden Beinen auf der Erde – aber nicht auf dieser.

Die realistischen Störenfriede

Als Bettlektüre genießen sie gern auch fiktionale Romane, in denen alle von Natur aus gut sind – brave Nachkommen ihrer Großeltern, die aus Karl May bereits die Lehre sogen, daß alle Menschen von Grunde auf gut sind – bis auf ein paar schwarze Schafe und Bösewichter, die den geliebten Winnetou ermordet hatten. Wer an das Gute glaubt, benötigt immer auch ein fiktionales Böses als Gegenbild.

Dieses Böse verkörpert sich aus Gutmenschensicht idealtypisch im Leugner des Guten. Wer seine persönlichen oder nationalen Interessen zum Maßstab seines Handelns macht und nicht das universalistische Gutmenschenideal, eignet sich perfekt als Bösewicht. Ein idealistisches Menschenbild muß wütend gegen das realistische ankämpfen, wo immer die Realität das Ideal negiert.

Realistisch ist ein Menschenbild, das jedem Menschen alles zutraut, von den schrecklichsten Taten bis hin zu liebevoller Selbstaufopferung. Seine Realität sucht es in der rückblickenden Betrachtung der Geschichte und in den Naturwissenschaften vom Menschen. Es hatte seit Ende des Mittelalters nach und nach das Weltbild der Scholastik abgelöst, das sich für die Zufälligkeiten der Welt nicht interessierte und sein Heil in der kontemplativen Versenkung in religiösen Idealen suchte.

Die Erben der religiösen Scholastik sind unsere Gutmenschen. Sie haben Gott abgesetzt, einen „Menschen an sich“ inthronisiert und verehren ihn wie etwas Heiliges. Der tiefe Graben, der die westlichen Gesellschaften spaltet, ist in seinem tiefsten Kern auch religiös fundiert. Zwischen religiösem Wahn und strikt diesseitigem Weltbild gibt es keine Brücke. Die alten Scholastiker hatten für Gottesleugner nur den Scheiterhaufen übrig. Mit seinen Flammen rotteten sie „das Böse“ aus und befreiten die verlorenen Seelen von ihm.

Wenn wir unseren Gutmenschen ganz, ganz tief in die Augen blicken, sehen wir die Feuer des Fanatismus schon in ihnen brennen.


[1] Hessisch Niedersächsische Allgemeine 10.8.2021.

[2] T.J. Klune, Mr. Parnassus Heim für magisch Begabte, 2021, S.427.

[3] T.J. Klune, Mr. Parnassus Heim für magisch Begabte, 2021, S.428: „… mehr als das Etikett, das Sie ihm verpasst haben, ganz egal, woher er stammt.“

[4] Joel Shepherd, Breakaway, 2003, deutsch unter Die Androidin zwischen allen Fronten, 2017, S.344, 78.

[5] Joel Shepherd, Breakaway, 2003, deutsch unter Die Androidin zwischen allen Fronten, 2017, S.294.

[6] Joel Shepherd, Crossover, 2001, deutsch unter Die Androidin auf der Flucht, 2017, S.216.

[7] Vgl. im einzelnen: Klaus Kunze, Mut zur Freiheit, 1995.