Gefangen in der eigenen Ideologie

Wo das Weltbild sich schließt, fängt die Borniertheit an. Ein geschlossenes Weltbild schließt den eigenen Verstand ein und neue Argumente aus. Sinnfällig wurde eine Selbstbornierung im Gedankenkäfig der eigenen Ideologie, als die Kommunisten heute vor 61 Jahren, am 13. August 1961, West-Berlin abriegelten und mit dem Bau von Mauer und Sperranlagen begannen. Die Einmauerung der eigenen Bevölkerung hielt vor der Geschichte nicht stand. Das Freiheitsbedürfnis der Menschen sucht sich immer seinen Weg.

Man kann die europäische Geschichte unter vielen Gesichtspunkten betrachten. Aus Sicht geistiger Freiheit und ihrer Bedrohung zeigt sie ein geografisches Muster: Dem europäischen Altertum lag der Gedanke ganz fern, Menschen umzubringen, weil sie etwas nicht glauben wollten. Aus religiösem Fanatismus geborene Intoleranz, Haß und Gewalt sind Importe aus dem Orient. Sie behaupten: Es gibt eine ewige Wahrheit, und zwar nur eine, und wir allein kennen sie.

Die angestammten Religionen der Germanen, Griechen und Römer kannten keine abstrakten „Gebote“ und Verbote. Sie waren auch offen für neue Götter. Bewußt kritischer Geist und Skeptizismus erlebten in sokratischer Zeit Griechenland eine erste Blüte.

Das Morgenland aber gebar die Idee eines eifersüchtigen Gottes, der keine anderen neben sich duldet, strenge Gebote erläßt und neben dem Himmel auch eine Hölle bereithält. Mit dem Christentum hielt ideologische Intoleranz ihren Einzug in Europa und hezte den Ungläubigen mächtig ein. Das Weltbild seiner Anhänger schloß sich. Es durfte nur noch eine Wahrheit geben. „Ketzerei“ wurde lebensgefährlich.

In der frühen Neuzeit saß die Hauptverwaltung der himmlischen Wahrheit in Rom. Sie wachte eifersüchtig über die Geltung ihrer Dogmen. Diese besagten zum Beispiel, ein Geistwesen namens Gott sei mit dem Guten an sich wesensgleich. Es habe die Welt geschaffen und bald auch den Menschen an sich nach seinem Bilde. Gott und die menschliche Seele seien Geist und damit der irdischen Welt entgegengesetzt.

Eine Blutspur von Vanini bis Rushdie

Ob Menschen nun mit einer Seele denken, einem Geist oder einem Gehirn: Jedenfalls kann man sich das Denken kaum mehr abgewöhnen, wenn man einmal damit angefangen hat. So erging es dem Lucilio Vanini (alias Giulio Cesare Vanini 1585-1619), und das wurde auch Salman Rushdie (*1947) zum Verhängnis, auf den gestern, am 12.8.2022, ein Mordanschlag verübt wurde. Beide machten sich frei von den bornierten Zumutungen eines geschlossenen religiösen Weltbildes.

Lucilio Vanini war italienischer Theologe und Naturphilosoph. Er wurde am 9. Februar 1619 von der katholischen Inquisition in Toulouse bestialisch hingerichtet. Sein Verbrechen: Er vertrat eine pantheistische Naturphilosophie, derzufolge Gott in und durch die Natur wirkt, sich in den materiellen und geistigen Dingen der Welt manifestiert. Eine Lehre, die von der Kirche als atheistisch und blasphemisch verurteilt wurde.[1] Er glaubte nicht an die Teilung in ein Diesseits und ein Jenseits, in dem Gott waltet. Seiner pantheistischen Meinung nach sei Gott ein geistiges Pinzip und wirke in allem und jedem.[2]

Gäbe es wirklich eine schöpferische Gottesperson, müßte man ihr vorwerfen:

Wenn Gott nicht wollte, daß die schlimmsten und nichtswürdigsten Handlungen in der Welt ihr Wesen hätten, so würde er ohne Zweifel mit einem Winke alle Schandthaten aus den Grenzen der Welt verjagen und verbannen; denn wer von uns kann dem göttlichen Willen Widerstand leisten? Wie kann man annehmen, daß die Verbrechen gegen Gottes Willen vollbracht würden, wenn er doch bei der Vollbringung der Sünde den Verbrechern die Kräfte dazu verleiht? Wenn aber der Mensch sich vergeht, ohne daß Gott es will, so ist Gott schwächer als der Mensch, der sich widersetzt und dazu die Macht hat.

Hieraus schließt man, daß Gott die Welt so haben will, wie sie ist, denn wenn er eine bessere wollte, so würde er eine bessere haben. … Wenn Gott die Sünden will, so ist er es, der sie begeht; wenn er sie nicht will, so werden sie dennoch begangen. Folglich muß man von ihm sagen, daß er entweder nicht vorsehend, oder ohnmächtig, oder grausam ist …[3]

Lucilio Vanini (1585-1619)

Vanini bestritt, es gebe Gott und Teufel als Personen. Das hörten die Kirchenoberen ungern. Wenn Gott nur als schöpferisches Prinzip in allem lebendig ist und das Böse nur eine natürliche menschliche Verhaltensweise, konnte es keine Sünde mehr geben und hätte niemand mehr auf die römische „Hauptverwaltung ewige Wahrheiten“ gehört. Vanini wurde gefangengesetzt, vor Gericht gestellt, verurteilt, seine Zunge herausgerissen und schließlich wurde er mit seinem Werk[4] 1619 verbrannt.

Vanini bestritt, es gebe Gott und Teufel als Personen. Das entzog der Wächterrolle der Kirche über die Menschen den Boden.
(Hugo von Trimberg, Der Renner – Tafel der christlichen Weisheit, um 1440)

Wo Menschen an die Macht gelangen, die sich in Besitz der einzigen und ewigen Wahrheit wähnen, brennen Bücher und müssen Menschen sterben. Wer an einen al­lei­nigen Gott oder eine al­lei­nige Moral glaubt, sieht den Un­gläu­bi­gen als gottlos, bö­se, un­­­mo­ra­lisch und schlechthin ver­werf­lich an. Wie der Kirchenvater Au­gustin stellt er seine Mo­ral über Freiheit und Le­bens­recht An­ders­den­kender:

„»Es kommt nicht darauf an, ob jemand ge­zwungen wird, son­dern allein darauf, wozu er gezwungen wird, ob es nämlich etwas Gutes oder etwas Böses ist.«[5]

Aurelius Augustinus (354-430), Ep.93 (V 16) ad Vicentinum.

Dieser Satz, der wie bei Platon die sou­veräne Nicht­achtung der in­dividuellen Freiheit und subjektiven Mo­­ralität durch den, der sich im Besitze der abso­luten Wahr­heit glaubt, zum Ausdruck bringt, hat historisch zur Rechtfertigung der Ket­zerverfol­gungen gedient.“[6] Aus die­ser Geisteshaltung folgten die Gre­uel der Re­ligions­kriege, die Ro­­bespier­re’sche Guillo­tinenmoral und die Schrecken des Archi­pels GULAG.

„Den Irrtum ausrotten“

Aus Sicht einer Doktrin, also einer kohärenten Werteordnung, er­scheint jede ihr ent­sprechende Aus­sage als wahr und jede ihr wider­spre­chende als falsch. Wie sehr das für je­de Herr­schaftsideologie gilt, schil­derte der katholische Theologe Donoso (1809-1853):

Die Freiheit in der Wahrheit ist ihr heilig, die im Irr­tum ist ihr eben­so ver­ab­scheu­ungswürdig wie der Irrtum selbst; in ihren Augen ist der Irr­tum ohne Rechte ge­bo­ren und lebt ohne Rechte, und dies ist der Grund, wes­halb sie ihm nach­spürt, ihn verfolgt bis in die geheim­sten Schlupf­win­kel des menschlichen Geistes; weshalb sie ihn auszu­rotten sucht. Und die­se ewige Illegi­timität, diese ewige Nackt­heit und Blöße des Irr­tums ist so­wohl ein re­ligiöses als auch ein po­li­ti­sches Dogma. Zu allen Zeiten ha­ben es al­le irdi­schen Gewalten ver­kün­det: Alle ir­di­schen Ge­walten haben das Pri­n­zip, auf dem sie be­ru­hen, der Dis­kus­sion ent­zogen; alle haben das diesem Prinzip ent­ge­gen­ste­hende Prin­zip Irrtum ge­nannt und haben es jeder Legi­timität und jeden Rech­tes ent­klei­det.“[7]

Juan Donoso Cortés, Essay über den Katholizismus, den Liberalis­mus und den So­zia­lis­mus, 1851, Hrg.Günter Maschke, Weinheim 1989, S.22.

Eine zugleich irdische wie auch geistliche Gewalt bilden die persischen Mullahs. Ihr Islam teilt seine geistigen Wurzeln mit dem Christentum. Der Inder Salman Rushdie schreibt Romane und ist kein Theologe, kein systematischer Denker. „Einen Erfolg verzeichnete er 1988 mit seinem Werk Die satanischen Verse. Die in den Albträumen eines Protagonisten widergespiegelte Lebensdarstellung des Propheten Mohammed war der Anlaß für den iranischen Staatschef Chomeini, Rushdie mittels einer Fatwa am 14. Februar 1989 zum Tode zu verurteilen. Begründet wurde diese Fatwa damit, das Buch sei ‚gegen den Islam, den Propheten und den Koran‘ gerichtet. Chomeini rief die Muslime in aller Welt zur Vollstreckung auf. Die iranische ‚halbstaatliche‘ Stiftung 15. Chordat setzte ein Kopfgeld von zunächst einer Million US-Dollar aus.“ (nach Wikipedia).

Während eines Vortrags am gestrigen 12. August 2022 in Chautauqua, New York, wurde Rushdie durch Stiche lebensgefährlich verletzt. Wie auch bei den Christen, sind sich die mohammedanischen Geistlichen keineswegs einig, wann jemand todeswürdig ihren Gott lästert. Das macht geschlossene Weltbilder aber nicht harmloser. Es zeigt nur die Unberechenbarkeit ihrer Anhänger auf. Sie gleichen den Tauben: Sind sie unten wie in einem laizistischen Staat, fressen sie uns aus der Hand. Sind sie aber wie in einem geschlossenen Gottesstaat oben, dann machen sie uns auf den Kopf.

Dies gilt nicht nur für den ausdrücklich religiösen Flügel der in sich geschlossenen Weltbilder. Es gilt für politische und andere Ideologien ebenso.

Die größten Zerstörungen und Leiden in der bisherigen Geschichte sind nicht von Relativisten, Skeptikern oder Nihilisten verursacht worden, sondern von Moralisten und Normativisten – und zwar im Namen der ‚einzig‘ wahren Religion, der ‚einzig‘ richtigen Politik oder der ‚einzig‘ zur Herrschaft geeigneten Rasse.

Panajotis Kondylis (1943-1998), Macht und Entscheidung 1984, S.125.

Nie wieder!

Dabei ist unvergessen, daß der Marxismus eine komplette – weltliche – Heilsreligion war. Es fehlte weder an einem paradiesischen Urzustand (in der klassenlosen Gesellschaft), noch am Sündenfall (des Privateigentums an Produktionsmitteln), dem Sieg „Gottes“ über den „Satan“ (in der proletarischen Revolution) noch schließlich am Eingehen ins Paradies (in der klassenlosen Gesellschaft). Das Walten Gottes ersetzten seine Gläubigen durch angebliche historische Gesetzmäßigkeiten (Histamat). In Deutschland mauerten sie sich 1961-1989 ein, unterdrückten jedes freie Denken und sperrten 17 Millionen Deutsche ein. Tausende saßen in Knästen, erlitten berufliche Nachteile, wurden zum Tode verurteilt oder an den Sperranlagen erschossen.

Unser Staat versteht sich als laizistisch und säkular. Er trennte Religion und Kirchen vom Staat. Höchstes Mißtrauen ist angebracht, wo immer Kirchen, Parteiungen oder ideologische Gruppierungen sich unseres Staates bemächtigen und diese Trennung bedrohen. Sie wollen ihre ideologie, ihr schlossenes Weltbild und ihre alleinige „Wahrheit“ zur Staatsdoktrin erheben.

Von Ideologien zerfressene oder eroberte Staaten erkennen wir äußerlich daran, daß die Symbole einer religiösen oder weltlichen Wahrheit die staatlichen verdrängen. So trat 1933 die Hakenkreuzfahne erst neben, dann über die Reichsfahne, trat in der DDR die rote Fahne neben die Staatsflagge und wehten dieser Tage Regenbogenfahnen an öffentlichen Gebäuden. Die Anhänger dieser geschlossenen Weltbilder sind unfähig, aus dem Gefängnis ihrer eigenen ideologischen Zwangsjacken auszubrechen und wollen uns allen welche überziehen.

Geschlossene Weltbilder legen den Verstand in Ketten.

Sie suchen die Medien politisch korrekt zu monopolisieren, kanzeln Menschen mit abweichender Meinung ab, zünden, je nach Grad der Radikalisierung, auch schon mal nachts ihre Autos an oder schlagen „Rechte“ halbtot. Vanini ist nicht lange genug her, und Rushdie nicht weit genug weg. Der mörderische Ungeist der Hauptverwaltung ewige Wahrheit fährt mal in den enen, mal in den anderen selbsternannten Vollstrecker.

Um uns vor ihnen wirksam zu schützen, haben wir uns einen Staat geschaffen. Wir leisten ihm Gehorsam, weil er diese Schutzpflicht tatsächlich erfüllt kraft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und Gehorsam. Wo ein Staat sich allerdings zum Handlanger einer siegreichen Ideologie macht und seine Polizei jemanden um sechs Uhr früh aus dem Bett holt, weil er etwas „Unwahres“ gesagt oder einen Würdenträger „beleidigt“ hat“, zerreißt dieser Staat das Band zwischen sich und seinen Bürgern. Er tritt dann als ihr Feind auf. Wir hatten das im Deutschland des 20. Jahrhunderts zweimal.

Seien wir wachsam! Nie wieder!


[1] Voltaire und Lucilio Vanini, am 9.2.1619 von der katholischen Inquisition verbrannt, Correspondance Voltaire.

[2] Der evangelische Theologie Wilhelm David Fuhrmann (1764-1838) bezeichnete Vaninis Lehren in einer ausführlichen Untersuchung als kirchenfeindlich, aber nicht gänzlich atheistisch:, Leben und Schicksal, Geist, Character und Meynungen des Lucilio Vanini, 1800.

[3] Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band X, Parerga und Paralipomena, 2. Band., 2. Teilband, Zürich 1977, S. 405 f., zit. nach Herbert Becker, Arthur-Schopenhauer-Studienkreis.

[4] Nach Fuhrmann a.a.O.

[5] Aurelius Augustinus, Ep.93 (V 16) ad Vicentinum.

[6] Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1951, 4.Auflage 1990, S.65.

[7] Juan Donoso Cortés, Essay über den Katholizismus, den Liberalis­mus und den So­zia­lis­mus, 1851, Hrg.Günter Maschke, Weinheim 1989, S.22.