Zweifelsfrei war der historische Rassismus eine Herrschaftsideologie. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts teilten die USA und europäische Mächte die Welt unter sich auf. Am Schluß herrschte England über ein Fünftel der Erde. Den Ureinwohnern brachten man, so ihre Überzeugung, die Zivilisation. Vom Prärieindianer bis zum Australneger galten die Eingeborenen als Primitive, und das nicht nur hinsichtlich ihrer fehlenden „Zivilisation“:
Charles Darwin hatte nämlich die Gesetze von Mutation und Selektion entdeckt. Die Evolutionsbiologie steckte noch in den Kinderschuhen und schwankte zwischen richtigen Beobachtungen und zu weit gehenden Schlußfolgerungen. In der Öffentlichkeit setzte sich schnell der von Darwins Gegnern befeuerte Eindruck von der Evolutionstheorie fest, sie betrachte „den Affen“ als Vorfahren „des Menschen“. Die Evolution als eine lineare Entwicklung von etwas Niederem zu etwas „Höherem“ aufzufassen, lag nahe.
Als Motor der Selektion stellte man sich lange vor, es überlebe und pflanze sich weiter fort, wer objektivierbar überlebenstauglicher sei als der andere. Der Überlegene fresse jeweils den weniger Tüchtigen. Die Stärksten würden dadurch überleben. Biologisch ist das eine Simplifizierung, die heute so nicht mehr haltbar ist. Sie entsprach aber dem Wissensstand der Biologie bis zur 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts und bildete eine Steilvorlage für eine auf sie aufbauende rassistische Ideologie. Diese besagte, es solle jeweils das überlegene Tier das unterlegene fressen, und der überlegene Mensch über den unterlegenen herrschen, so sei nun einmal das Gesetz der Natur. Damit war die ideelle Rechtfertigung dafür perfekt, überseeische Gebiete zu kolonialisieren und die Eingeborenen zu beherrschen. Der Rassismus als Herrschaftsideologie war geboren.
Wissenschaftlich gesehen war die damals so verstandene Evolution eine Theorie mit keinem weiteren Anspruch, als Realität zu beschreiben. Von Ideologen wurde sie mit einem verpflichtenden Sollen versehen. Das Primitivere sollte dem Höheren weichen. So eroberten tief christliche Kolonialmächte mit gutem Gewissen fremde Länder, was sie sonst vielleicht nur mit schlechtem vermocht hätten. Denn nicht nur biologisch glaubte man sich höherstehend, sondern auch kulturell. Man nahm sich selbst als Richtmaß, End- und Höhepunkt auch der kulturellen Evolution und fand die halbnackten Eingeborenen in ihren Baströckchen ziemlich zurückgeblieben.
Bis heute beinhaltet die Forderung nach Entwicklungshilfe die Vorstellung, in anderen Menschen stecke im Kern angelegt bereits, was wir unter Zivilisation verstehen, es sei nur quasi noch eingewickelt, nicht richtig ausgewickelt, aber als Anlage vorhanden, es müsse sich „entwickeln“, so wie die Blüte in der Knospe schon angelegt ist. Auch die „Entwicklungshilfe“ beruht auf einem zutiefst rassistischen Grundgedanken und stabilisiert in ihren konkreten Auswirkungen die Herrschaft über die „Unterentwickelten.“
Heute versteht die Biologie die Wechselwirkung von Mutation und Selektion so, daß der jeweils einer bestimmten Umweltsituation am besten Angepaßte sich stärker fortpflanzt. Die Evolution verläuft also nicht zielgerichtet auf einen schon feststehenden Endpunkt hin und schon gar nicht zwangsläufig in Richtung auf eine „höhere“ Entwicklungsstufe. Zu dieser Erkenntnis gelangte die Biologie aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Rassismus auch als Herrschaftsideologie war damit passé.
Es schlug die Stunde des Antirassismus als Herrschaftsideologie.
Wenn wir uns eine biologische Eigenschaft einer Spezies nicht recht erklären können, kommen wir ihr auf die Spur durch die Frage: Inwiefern ist sie dem Überleben der Art dienlich? Bei der Erklärung einer geistigen Leistung wie einer verbreiteten menschlichen Ideologie ist dieselbe Frage angebracht: Inwiefern stärkt es im sozialen Leben die Position eines Menschen oder einer Gruppe, eine bestimmte Ideologie anzunehmen?
Für den Rassismus ist das völlig klar, aber für seine logische Umkehrung ebenso. Sie besagt, alle Menschen seien erstens gleich und zweitens darum gleichwertig, also sollten sie auch im Zweifel gleichgemacht und als gleichwertig behandelt werden. Mit dem Rassismus gemeinsam fußt der Antirassismus auf einer vermuteten biologischen Eigenschaft des Menschen und knüpft daran die moralpolitische Forderung, diese Eigenschaft im sozialen Leben sicherzustellen. Inhaltlich handelt es sich dabei beim Rassismus um die angenommene Ungleichheit und beim Antirassismus um die Gleichheit. Strukturell denken die Anhänger beider Ideologien gleich: Sie leiten aus einem angeblichen Sein ein moralpolitisches Sollen ab.
Als soziales Phänomen können beide nur wirksam werden in einer Gesellschaft Ungleicher. Wo in einem Lande nur Angehörige desselben Volkes leben wie in Island, läßt sich keine Herrschaft auf eine Ideologie der Gleichheit oder der Ungleichheit stützen. In den Südstaaten der USA hingegen diente der Rassismus als Herrschaftsideologie. Er rechtfertigte die Herrschaft der einen über die anderen.
Nur in einem solchen Land taugt umgekehrt der Antirassismus als ideologische Waffe. Diese wird heute von zwei unterschiedlichen sozialen Gruppen zu ihrem jeweiligen Nutzen geführt:
Für Angehörige früher vom sozialen Aufstieg ausgeschlossener ethnischer Gruppen liegt auf der Hand, daß ihre soziale Karriere nur über der Leiche des früheren Rassismus gelingen kann. Sie sind solange die geborenenen Antirassisten, wie sie von der Herrschaft ausgeschlossen sind. Ihr Antirassismus ist aber kein prinzipieller. Zum Beispiel kann unter der Losung „Black Power“ ein eigener, handfester Rassismus keimen. Der gegen die frühere, „weiße“ Herrschaft gerichtete Antirassismus könnte theoretisch in einen eigenen Rassismus umschlagen, sobald die demographischen und politischen Verhältnisse dies erlauben.
Prinzipielle Antirassisten sind hingegen Intellektuelle, deren sozialer Aufstieg sich mit allgemeiner Durchsetzung einer antirassistischen Ideologie verbindet. Diese besagt, daß Rassismus zu böser Unterdrückung führt, daß er darum überall bekämpft und unterdrückt werden muß. Er muß in jedem seiner Schlupfwinkel aufgespürt und entlarvt werden. Um ihn in jeder Maskerade zu durchschauen und immer neue rassistische Diskriminierungen aufzudecken, bedarf es freilich speziell geschulter Fachleute. Nur antirassistische Intellektuelle sind imstande, aufgrund ihrer hohen geistigen Bildung mit verbindlicher Wirkung für die ganze Gesellschaft zu interpretieren, was unter Rassismus konkret zu verstehen ist.
In einer solchen antirassistischen Gesellschaft herrscht, wer darüber entscheidet, was Rassismus konkret bedeutet und welche sozialen und politischen Folgerungen daraus zu ziehen sind, mit welchen Gesetzen und Maßnahmen man Rassismus bekämpft und wie mit Rassisten schließlich zu verfahren ist.
2 Pingbacks