Die Krise der Nationalstaatlichkeit

Das deutsche Volk ist nicht danach gefagt worden, ob es zugunsten einer multikulturellen Gesellschaft abgeschafft werden möchte. In einer Demokratie, in der das Volk über die sein Schicksal wesentlich berührenden Fragen durch Volksabstimmung entscheidet, wäre das zu erwarten gewesen.

Doch selbst wenn man dem Parlamentarismus unserer Verfassung zugesteht, sich mit dem Adjektiv demokratisch zu schmücken, gelangt man zu keinem besseren Ergebnis. Eine Entscheidung des Bundestages zur Etablierung einer multikulturellen Gesellschaft gibt es nämlich auch nicht.

Das wirft die grundsätzliche Frage nach der Legitimität der vollendeten Tatsachen auf, vor die man uns stellt. „Man“ – das ist eine geschlossene Fronde der üblichen Verdächtigen: Linksextremisten möchten das deutsche Volk abschaffen, Kirchen predigen, den Heiden aller Herren Länder die Einreise zu erlauben, Wirtschaftskreise sorgen sich um Arbeitskräfte und das Bruttosozialprodukt. Jedes Jahr wird eine sechsstellige Zahl von Ausländern eingebürgert.

Zugleich werden die herkömmlichen Konzepte von Volk, Nation und Staat grundsätzlich in Frage gestellt. Ein noch nicht staatlich verfaßtes Volk, erläutert der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer,

„erwächst aus einer geschichtlich gewachsenen, substantiellen Gemeinsamkeit einer Gruppe von Menschen. Sie verweist und findet ihren Grund in der subjektiv unverfügbaren Vergangenheit: aus gemeinsamer Geschichte, Schicksal, Sprache, Kultur erwächst solidarische Verbundenheit. Ihre aus geschichtlicher Kontingenz geprägte Gestaltung widerstrebt rationaler Erklärbarkeit.“

Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2.Auf. (2016), S.318.

Die Angehörigen eines Volkes sind gewöhnlich miteinander mehr oder weniger eng verwandt. Darum bilden sie eine Solidargemeinschaft, denn diese

„ist wesentlich und legitimerweise Abstammungs­gemeinschaft, insoweit sie diejenigen ausgrenzt, die außerhalb der Gemeinschaft stehen, weil sie an deren Gemeinsamkeit nicht teilhaben: die Angehörigen einer Solidargemeinschaft stehen sich einander näher als den Menschen im übrigen, d.h., sie sind im Verhältnis zueinander gleicher als im Verhältnis zu anderen.“

Depenheuer, am angegebenen Ort S.309 f.

Wenn im Grundgesetz steht, das deutsche Volk habe sich diese Verfassung gegeben, ist mit Volk genau diese, sich als zusammengehörig verstehende Menschengemeinschaft gemeint. Als rechtlich verfaßte Nation bilden sie sich aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts einen Staat, der seine Staatsbürgerschaft auch Fremden verleihen und diese damit in das Volk aufnehmen kann.

Die Vertreter multikultureller Ideen träumen dagegen von einem grenzenlosen Weltstaat. Der Schweizer Philosoph Georg Kohler sieht das in größerem Zusammenhang:

„Die Krise der Nationalstaatlichkeit ist schon lange keine nationale Angelegenheit mehr, sondern eigentlich nichts anderes als die Form- und Selbstgestaltungsunsicherheit der modernen westlichen Massengesellschaft.“

Georg Kohler,Bürgertugend und Willensnation, Zürich 2010, NZZ-Verlag, S.72.

Auch in anderen Ländern stoße man auf die „Entbindung der Bevölkerung aus dem Volk.“ Das führt vielfach zu Unbehagen, die der Philosoph Peter Sloterdijk so begründete:

 Es war, wie man im Rückblick deutlicher erkennt, die Kulturleistung des modernen Nationalstaats gewesen, für die Mehrheit seiner Bewohner eine Art von Häuslichkeit, jene zugleich imaginäre und reale Immunstruktur, bereitzustellen, die als Konvergenz von Ort und Selbst oder als regionale Identität, im günstigen Sinn des Wortes, erlebt werden konnte. Diese Leistung wurde am eindrucksvollsten dort erbracht, wo die wohlfahrtsstaatliche Zähmung des Machtstaates am besten gelungen war. Durch die Globalisierung wird dieser politisch-kulturelle Häuslichkeitseffekt angetastet – mit dem Ergebnis, daß zahllose Bürger moderner Nationalstaaten sich auch zu Hause nicht mehr bei sich selbst und auch bei sich selbst sich nicht mehr zu Hause fühlen.

Peter Sloterdijk, Der gesprengte Behälter, in: DER SPIEGEL 1.9.1999

Wenn die Heimat zur Fremde wird

Nicht mehr zuhause fühlen sich viele Deutsche, weil ihnen die Heimat zur Fremde gemacht wurde. In einer Demokratie wie der Schweiz werden Existenzfragen der Nation zur Abstimmung gestellt. Hier fragt man sich besonders kritisch, auf welchen Ideen die Schweizer Demokratie beruht, weil sie aus Vertretern verschiedener Völker gebildet wird. Eignet sie sich als Modell für ein Deutschland der Zukunft, das nur noch eine Zeitlang dem Namen nach deutsch sein wird? Läßt sich aus völlig Heterogenem ein Zusammenhalt schmieden? Wie schlecht dies noch Jahrhunderte nach den Einwanderungen klappt, sehen wir dieser Tage in den USA und ihren teils bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die Volksgruppen stehen sich in großen Teilen mißtrauisch und gewaltbereit gegenüber.

Die historische Antwort des Nationalstaats hatte dagegen gelautet: Gebt jedem Volk und Völkchen seinen eigenen Staat, ja sogar ein Menschenrecht auf einen Staat, und laßt es dort selbstbestimmt machen, was es will. Trotz aller verkrampften Versuche, die deutschen Staatsbürger durch einen „Verfassungspatriotismus“ zusammenzuschweißen, gibt es weltweit keine überzeugenden Beispiele, daß eine Transformation eines Nationalstaats in eine Art multinationalen Distrikt jemals friedlich gelungen sei und reibungslos funktionierte.

Bleibt also doch nur das Modell der Schweiz? Betrachten wir seine Funktionsvoraussetzungen einmal aus Sicht des eidgenössischen Philosophen Georg Kohler:

Womit ich endlich bei der Bedeutung von Nation als der realgeschichtlichen Antwort auf die Grundfrage nach der Möglichkeitsbedingung von demokratischer politischer Ordnung angelangt bin: Funktionierende Demokratien verlangen das Bestehen von Gemeinsamkeitsfaktoren, die den demokratischen Souverän in wirksamer Weise als „Wir, der Demos“ erfahrbar und damit auch aus der Innenperspektive des Einzelnen verbindlich machen; ein Erfordernis, das ein wiederum funktional, aus den Möglichkeitsprämissen von Demokratie ableitbares Postulat ist.

Georg Kohler, am angebenen Ort S.56.

Diese Gemeinsamkeitsfaktoren scheitern nicht daran, daß die Schweiz mehrheitlich deutsch, in wesentlich Teilen aber welsch ist. Die übereinstimmenden Antworten auf die wesentlichen Fragen, die das friedliche Zusammenleben ausmachen, also die spezifisch demokratische Kultur und der gleiche zivilisatorische Stand, ermöglichen das.

Die Willensnation

Ähnlich könnten wir mit den Flamen friedlich in einer Demokratie zusammenleben, von unseren Landsleuten in Österreich ganz zu schweigen. Die Schweiz betrachtet sich dagegen zurecht nicht als Abstammungsgemeinschaft, sondern als Willensnation mit

nicht nationalistischem Nationalbewußtsein, das auch zwischen „Wir“ und „Ihr“ friedlich zu unterscheiden weiß, indem es vor allem auf seine spezifischen Verfahren der Willens- und Entscheidungsbildung vertraut.

Georg Kohler, S.64.

Die engen Grenzen des Modells einer Willensnation liegen, wo ein Teil seiner potentiellen Bürger mit dem anderen definitiv keine Gemeinsamkeit empfindet und darum keine Gemeinschaftlichkeit will. Eine Willensnation ohne Willen zu ihr funktioniert nicht.

Mythische Geburt einer Willensnation: der Rütlischwur 1291

Die deutsche Vergangenheit hat uns gelehrt, daß es grundsätzlich assimilationsbereite und -fähige Völker in unmittelbarer Nachbarschaft gibt. Zwischen deutschen und Polen entsteht Integration in einer Generation. Andere, von weiter her kommende Volksgruppen können Deutschland oder andere Länder jahrhundertelang bewohnen, ohne ihre Identität einzubüßen. Es gibt viele Bürger, die nicht die mindeste Lust haben, mit Leuten dauerhaft in einem Staat zusammenzuleben, wie sie jetzt massenhaft ins Land geholt werden. Sie wollen sie nicht, und sie wollen schon gar nicht, daß jene immer mehr werden.

Ein Staat hebt die wechselseitige Solidarität auf eine rechtlich verpflichtende Ebene. Er verlangt von jedem, notfalls auch in letzter Konsequenz, sein Hab und Gut, notfalls auch sein Leben, für die Solidargemeinschaft aller Bürger in die Waagschale zu werfen. Die Bereitschaft, für andere einzustehen, nimmt aber mit dessen kultureller Distanz ab. Es gibt viele Menschen, die gar keine Lust haben, mit jedwedem Fremden solidarisch zu sein, wenn das persönliche Opfer erfordert.

Auf der anderen Seite wächst eine neue soziale Unterschicht rasant an, die keinerlei Neigung dazu verspürt, deutsch zu werden, deutsch zu sprechen, ihre oft fanatisch vertretene Religion zu mäßigen, und vor allem: unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat und damit unsere Vorstellung eines guten Miteinanders zu verinnerlichen. Viele halten uns für verdammte Ungläubige und verachten uns. „»Es ist unmöglich,«“ zitiert der Rechtsphilosoph Johann Braun aus dem ‚Gesell­schafts­vertrag‘ von Rousseau,

„»mit Leuten, die man für verdammt hält, in Frieden zu leben.« Wo ein Teil der Bürger in einem Teil der anderen … nicht Rechtsgenossen, son­dern Feinde er­blickt, die den Lebensentwurf, den man für sich selbst hegt, gefährden,“ kann „existentielle Feind­schaf­t auch auf dem Boden des Rechts­­staates jederzeit aufbrechen.“

Johannes Braun, Recht und Moral im pluralistischen Staat, Juristische Schulung (JuS) 1994, 727, (730).

Einen gemeinsamen Staatswillen, erfüllt von derselben Hochschätzung von Demokratie, Menschenrechten und Verfassungsstaatlichkeit, können wir mit Leuten nicht bilden, die uns für Verdammte halten. Überdies fragte sich, warum wir das wollen sollten. Wenn man unter der Prämisse des friedlichen menschlichen Zusammenlebens ein allgemeines Gesetz aufzustellen hätte, ob Menschen mit diametral entgegengesetztem Glauben in einem Staat zusammenleben sollten, müßten wir das klar verneinen. Wir glauben an die Demokratie aufrechter Bürger, andere dienen auf Knien alten Götzen.

Georg Kohler meint,

daß sich die Notwendigkeit subjektiv erfahrbarer Gemeinschaftlichkeit unmittelbar mit den geschichtlich-kulturellen Vorgaben und Differenzen verbindet, in denen sich die menschliche Sozialnatur allemal verwirklicht. Wenn das aber gilt, dann ist die Wirklichkeit nationaler Zusammengehörigkeit notwendigerweise auch mit der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden verknüpft. Jede politische und demokratische Wir-Einheit benötigt, um sein zu können, was sie sein soll, Identität.

Georg Kohler, a.a.O. S.56.

Als Deutsche mit unseren einmaligen und unwiederholbaren historischen Erfahrungen haben eine Identität, die sich wesentlich von der anderer Völker unterscheidet. Diese nationale Identität ließe sich in einem multikulturellen Bevölkerungsgemisch der Zukunft nicht aufrechterhalten, womit auch die freiheitliche demokratische Grundordnung als unsere historisch jüngste nationale Lebensform ihre Grundlage einbüßen würde.

Die Auflösung aller Dinge

Wer meint, die Millionenscharen von Orientalen oder Afrikanern, die hier hineingelassen werden, würden sich in 20, 50 oder 100 Jahren nebst ihren Nachkommen auch nur im mindesten um Frauenrechte, Glaubensfreiheit oder demokratische Toleranz scheren, dürfte grenzenlos naiv sein.

Ohne eine gewisse Abgrenzung nach innen und außen kann es keine Selbstbehauptung des kulturell Eigenen geben. Es würde im Wind der Geschichte verwehen und vergehen. Das „moderne Verständnis von Nation“ trägt

„in sich die Idee kultureller Selbstbehauptung einer sich abgrenzenden Gruppe. Rings um Sprache und erlebtes, historisch erinnertes Schicksal, rings um gemeinsame Werte und Sitten, rings um einen Kanon der Weltinterpretation, von Würde, Anstand und Alltagsvernunft wächst die Idee der Nation. Jede Nation ist auch eine bloß geistige Konstruktion, eine paradoxe Erfindung von sich selbst, in Bildern, Fahnen, Hymnen und großen Erzählungen zum Gegenstand gemacht und sich in dieser Spiegelung selbst erst erschaffend.“

formuliert der ehemalige Bundesverfassungsrichter

Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.187.

Zu diesen gemeinsamen Werten dieser Weltinterpretation, gehört im heutigen Deutschland der Kernbestand an Normen, der sich in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung manifestiert. Der aufklärerische Ideenbestand von der Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen, seiner selbstgewählten Bindung an seine Solidargemeinschaft, von Meinungsfreiheit und so fort hat sich seit Jahrhunderten auch in Deutschland herausgebildet und gehört heute zum Kern unserer kulturellen Identität.  Eine solche

„offene Gesellschaft kann aber nur Gemeinschaft bleiben, wenn sie ganz entschieden ihre Identität pflegt und Mechanismen entwickelt, ihre Identität zu bekräftigen.“

Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.183.

Wenn die Mitglieder einer Solidargemeinschaft sich von ihr entfremden, weil sie sich mit Neubürgern nicht mehr identifizieren können, treibt sie der Auflösung entgegen.

Diese Auflösung ist das Ziel wesentlicher innerer Kräfte und äußerer Mächte.