Merkels moderner Cäsarismus

Intellektuelle Straßenköter und andere Ketzer

Um sich bei allen Fundamentalisten findamental unbeliebt zu machen, braucht man nur die Welt zu beschreiben, wie sie ist. Jene möchten das gar nicht wissen. Sie wollen immer nur hören, wie sie sein sollte.

Bleibend verhaßt bei Schwärmern jeder Couleur macht sich, wer ihre heiligen Kühe verwurstet, ihren Göttern nicht opfert und ihr Gutmenschentum als moralische Froschperspektive verhöhnt.

Doch existenzvernichtende Abwehrreflexe riskiert jeder intellektuelle Straßenköter, der sein Beinchen an den Säulen der Macht hebt. Die alten Majestäten verfolgten Majestätsbeleidiger umso strenger, je stärker das Fundament ihres Thrones bröselte. Darum richtet sich alle Wut unserer Herrscher in Parteien und Medien gegen „die Populisten“. Die sind doch tatsächlich so frech, ihren Willen für den Willen des Volkes zu halten. Diese Würde billigen unsere gewählten Repräsentanten sich nur selbst zu.

Der Populismus der großen Anzahl stellt grundsätzlich die Legitimität demokratischer Repräsentation in Frage, den Grundpfeiler des Grundgesetzes. Aus Sicht parlamentarischer Repräsentanten ist das unerhört und ganz schön extrem. Nun müssen sich allerdings die Vertreter gewöhnlich vor den Vertretenen rechtfertigen und nicht umgekehrt. Dabei stehen die gewählten Repräsentanten des Volkes immer in dem Verdacht, auf Kosten der Souveränität des Volkes eine eigene Souveränität begründen zu wollen.

In den letzten Jahren hat das Verhalten unserer Parlamentarier und der Regierungen, die sie sich wählen, diesem latenten Verdacht viel neue Nahrung gegeben. „Populismus“ der Straße lebt ausschließlich davon, daß immer mehr Menschen den Eindruck haben, die Parteien führten ein Eigenleben und ließen sich von außen nicht mehr steuern, von der Masse „hier unten“ nicht mehr kontrollieren.

Oligarchie statt Demokratie

Der Kölner Professor und damalige Sozialdemokrat Ro­bert Mi­chels for­mu­lierte schon 1911 tref­fend, daß die Or­gani­sa­tion die Mut­ter der Herr­schaft der Ge­wähl­ten über die Wäh­ler ist. Die „Un­gläu­bi­gen an den Gott der De­mo­kra­tie“ werden nicht mü­de, dar­auf hin­zu­wei­sen, daß auch unter de­mo­kra­ti­schen Ver­hält­nis­­sen nur We­nige wirk­li­che Macht ausüben.[1] Ohne die Medien würde diesen Leuten niemand zuhören – wie auch?

Durch ideologisch-personelle Verflechtung und wirtschaftliche Abhängigkeiten gehören die großen Medien heute, soziologisch betrachtet, in den Machtkreis der herrschenden Parteien.[2] Der „Schwärmer mag zufrieden sein, wenn sie verfassungsmäßig ‚frei‘ sind; der Kenner fragt nur danach, wem sie zur Verfügung“ stehen.[3] Diese Frage kann sich jeder selbst beantworten, wenn er etwa einen Tag lang die Nachrichten im Deutschlandfunk hört. „Regierungsverlautbarungsradio“ wäre noch eine Schmeichelei.[4]

Die herrschenden Parteien und ihre Medien bilden seit Jahrzehnten, was der Kölner Soziologe Erwin Scheuch als selbstreferentielles System bezeichnet hat. Es gehorcht nur noch seinen Eigengesetzlichkeiten und ist nicht von Außenseitern angreifbar. Es rekrutiert seinen Nachwuchs, indem neue Teilhaber an Schaltstellen der Macht nur gelangen, wenn sie vorher so werden, wie die anderen schon sind. Sie bilden eine klassische Oligarchie.

Die Macht ist heute in den Händen einer neuen oligarchischen Klasse, die ihre eigene Ideologie besitzt – jede dominierende Ideologie dient den Interessen der dominierenden Klasse. Der Graben, der diese neue Klasse vom Volk trennt, das heißt: von der Masse der Bürger, wird seit Jahrzehnten immer tiefer. Sie führt nicht im klassischen Sinne des Wortes, sie administriert, sie verwaltet. „Government“ wurde durch „Governance“ ersetzt. In einer Gesellschaft, wo die Verdinglichung der sozialen Beziehungen sich ebenfalls beschleunigt, geht sie mit den Bürgern um, als wären sie austauschbar, und verwandelt diese so in Objekte.

Alain de Benoist, Interview 20.7.2021

Systemisch wird die geschlossene Parteiengesellschaft durch das Parteiengesetz gewährleistet. Es verhindert anders strukturierte Parteien und diskriminiert Bewegungen, die bewußt nicht „Partei“ sein wollen. Ein Fanclub zur Unterstützung der Krönung eines Hohenzollernkaisers stünde draußen vor der Tür, aber auch eine basisdemokratische Bewegung.

Der Witz bei der regierungsamtlichen und medialen Stigmatisierung von „Populisten“ ist: Diese fordern mehr Demokratie und nicht weniger. Sie sind so frech, mit dem Grundgedanken der Demokratie zu fordern: möglichst viel Selbstregierung und Selbstbestimmung des Volkes, Herrschaft durch das Volk, wo plebiszitär möglich, und weniger Herrschaft über das Volk.

Demokratie oder Cäsarismus?

Brennend wird diese Frage für Millionen, wenn anscheinend einsame Regierungsentscheidungen an den Grundfesten von Staat und Volk rütteln: Da wird mal so eben, moraltreu aber rechtswidrig, eine Million Fremder ins Land geholt, da wird mal eben auf ein Kanzlerwort hin eine Ministerpräsidentenwahl in Thüringen rückgängig gemacht, da werden mal eben so alle Deutschen als virologisch Verdächtige behandelt.

Nicht die Entscheidungen an sich beschäftigen uns hier. Sie mögen angebracht sein oder auch nicht. Aber die Art und Weise ihres Zustandekommens nach Gutsherrenart erzürnt viele Bürger, die sich entmündigt vorkommen. Hatte Oswald Spengler vor 100 Jahren Recht, wenn er behauptete:

Souveränität des Volkes ist nichts als ein Wort dafür, daß die herrschende Gewalt den Titel Volksführer statt König angenommen hat. [5]

Oswald Spengler

Spengler widersprach vehement der doktrinären Hypothese, es könne eine ein für allemal ideale Staatsform geben. Er sah die moderne Demokratie ebenso zwangsläufig in einen Cäsarismus münden wie die antike Res publica der Römer. „Cäsarismus“, definierte er als „die Regierungsart, welche trotz aller staatsrechtlichen Formulierung in ihrem inneren Wesen wieder gänzlich formlos ist.“[6] In einem solchen Cäsarismus macht oder biegt sich der Machthaber die Gesetze so zurecht, wie er sie für seinen Machterhalt eben braucht, und läßt von ihm installierte Richter über die Rechtmäßigkeit entscheiden. So halten es Putin und Erdogan, aber auch viele hier weniger bekannte Potentaten.

Unsere Staatsform wird durch das Grundgesetz festgelegt. Läßt sie sich unterlaufen? Können unsere Regierenden ihren Buchstaben beibehalten und ihr doch geistig das demokratische Lebenslicht ausblasen? Die Belege häufen sich. Kein Verfassungsbuchstabe wird verletzt, wenn ein Parteispezi der Kanzlerin Präsident des Bundesverfassungsgerichts wird und mal eben vor wichtigen Urteilen zum Kaffee vorbeikommt.

Von „Koalitionsrunden“ und „Ministerpräsidentenkonferenzen“ steht im Grundgesetz kein Wort. Dabei pfeifen die Spatzen von den Dächern, daß hier die Weichen der Politik gestellt werden. Und war da nicht mal ein Parlament, in dem unsere Volksvertreter – nur ihrem demokratischen Gewissen unterworfen – die Gesetze erschaffen und im Zweifel allzuständig[7] sind? Die Fassaden stehen noch, die verfassungsmäßigen Regeln wurden nicht geändert, aber unterhalb ihrer Geltungsebene haben politische Parteien neue, oligarchisch wirkende Machtstrukturen etabliert. Wer die Klaviatur dieser Strukturen beherrscht, ist vom Willen des Volkes faktisch unabhängig und kann einen neuen Typus von Cäsarismus begründen.

Die Regierungszeiten Helmut Kohls und Angela Merkels haben uns gründlich gezeigt, daß auch im Parlamentarismus autoritär regiert werden kann, wie man interne Kritiker kaltstellt und die persönliche Macht taktisch absichert. Noch gibt es ein Zurück. Ob unser demokratisches Bewußtsein bereits so ausgehöhlt ist, daß wir uns das auch demnächst vom scheinbar laschen Laschet gefallen lassen, wird sich zeigen.

Napoleon krönt sich 1804 selbst: Der republikanische Volks- und Massenführer mausert sich zum Cäsar, die Geburtsstunde eines modernen Cäsarismus (Gemälde von Jacques-Luois David, Ausschnitt, Wikimedia, gemeinfrei).

Wenn wir die politischen Tendenzen in Europa und Amerika aber miteinander vergleichen, ähneln diese sich verblüffend. Dort erhob sich – Verfassung und die üblichen Spielregeln des Systems verachtend – ein Donald Trump aus der bis dahin schweigenden Masse der weißen „kleinen Leute“. Die Regeln des Systems waren nicht seine Regeln. Er bildete den Prototypen eines modernen Cäsaren, eines Volkstribunen, in dem die entwurzelten und enttäuschten Massen sich besser verkörpert sahen als im herkömmlichen Parlament.

Solche Leute sind der Alptraum unserer Herrschenden und würden das Ende ihrer Macht einläuten. Dabei ist – für deutsche Verhältnisse – völlig offen, ob ein rechtspopulistischer oder ein linkspopulistischer Machtmensch für einen „Trumpismus“ in Frage käme. Klugerweise würde er sich um solche verbalen Quisquilien gar nicht kümmern und brauchte den entnervten Menschen nur Ruhe, Stabilität, Gerechtigkeit und weniger Steuern zu versprechen.

Dann werden sie ihm so willig gehorchen und den Verlautbarungen seines Fernsehens zu gläubig lauschen wie das Gros unserer Landsleute das schon immer getan hat. Merkel näherte sich in ihrer Regierungszeit immer stärker einem modernen Cäsarismus. Der gesellschaftliche Stand in seinem Ständestaat hatte Instinkte, brachte es Oswald Spengler auf den Punkt; eine Partei in der Parteiendemokratie hat ein Programm; eine Gefolgschaft aber hat einen Herrn oder, zu Merkels Zeit, auch mal eine Herrin. Sie bestimmt darüber, was „alternativlos“ ist. Das ist rein zufällig immer das, was ihren Machterhalt sichert.

Vergessen wir nicht: Der alte Cäsar war nicht besser als seine von ihm beseitigten Konkurrenten. Er war nur noch skrupelloser und erfolgreicher als sie. Und an skrupellosen Politikern leidet Deutschland wahrhaftig keinen Mangel.


[1] Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demo­kratie, 1911, 4.Aufl.Stuttgart 1989, S. 370, S.351.

[2] Vgl. im einzelnen mit Nachweisen: Klaus Kunze, der totale Parteienstaat, 1994.

[3] Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918 in zwei Bänden, hier zitert nach der einbändigen Ausgabe nach dem Druck von 1923, Anaconda-Verlag 2017, ISBN 978-3-7306-0453-3, S.1342, über die Presse.

[4] Vgl. im einzelnen mit Nachweisen: Klaus Kunze, Die sanfte Gehirnwäsche, 2021.

[5] Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918 in zwei Bänden, hier zitert nach der einbändigen Ausgabe nach dem Druck von 1923, Anaconda-Verlag 2017, ISBN 978-3-7306-0453-3, S.1332.

[6] Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918 in zwei Bänden, hier zitert nach der einbändigen Ausgabe nach dem Druck von 1923, Anaconda-Verlag 2017, ISBN 978-3-7306-0453-3, S.1321.

[7] Der verfassungsrechtliche Terminus lautet Kompetenz-Kompetenz: Der Bundestag entscheidet, wann der zuständig ist.

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Facebook-Urteile: Zu früh gefreut

  1. Wolfgang Meier

    Wieder einmal eine erstklassige Analyse der Verhältnisse.
    „Der Witz bei der regierungsamtlichen und medialen Stigmatisierung von „Populisten“ ist: Diese fordern mehr Demokatie und nicht weniger. Sie sind so
    frech, mit dem Grundgedanken der Demokratie zu fordern: möglichst viel Selbstregierung und Selbstbestimmung des Volkes, Herrschaft durch das Volk,
    wo plebiszitär möglich, und weniger Herrschaft über das Volk.“
    Die NPD forderte in ihrem ersten Parteiprogramm, als vermutlich einzige Partei, die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden. Sie wurde von den demokratischen Parteien“ als undemokratisch verleumdet während jene, die die Macht des Volkes darauf beschränkten, daß sie alle vier Jahre mal zwischen verschiedenen Waschmittelreklamen wählen dürfen, die selbsternannten Demokraten waren. Das Volk wurde von den selbsternannten Demokraten nie gefragt ob es in die NATO wollte, ob es nicht schon 1956 in einem vereinigten und neutralen Deutschland leben wollte, ob Deutschland Mitglied der EU werden sollte, usw.. Das entschieden die Demokraten für uns und wer anderer Meinung war, war eben Verfassungsfeind.
    “ In einem solchen Cäsarismus macht oder biegt sich der Machthaber die Gesetze so zurecht, wie er sie für seinen Machterhalt eben braucht, und läßt
    von ihm installierte Richter über die Rechtmäßigkeit entscheiden. So halten es Putin und Erdogan, aber auch viele hier weniger bekannte Potentaten.“
    Nein, so halten es nicht nur Putin und Erdogan sondern auch die Machteliten der BRD. Richter wird, wer vom Richterwahlausschuss ernannt wird. Im Richterwahlausschuss sitzen die Vertreter dieser Eliten. Wer in jungen Jahren als Gegner dieser Eliten aufgefallen ist, bleibt schon außen vor. Aber selbst ernannte Richter wissen was erwartet wird und welche Konsequenzen es für sie haben würde wenn sie „falsche Meinungen“ vertreten. Ich habe es selbst erlebt, daß ein Richter, der noch nicht auf Lebenszeit ernannt worden war, in bestimmten Rechtsfragen Urteile so fällte wie es die Staatsanwaltschaft erwartete. Die letzte Verhandlung, die ich bei diesem Richter erlebte begann er dann aber mit der Ansage, daß sich etwas gegenüber früher geändert habe. Er sei jetzt Richter auf Lebenszeit geworden. Tatsächlich änderte sich auch seine Verhandlungsführung vollständig. Während er zuvor Entlastungszeugen als parteiisch bezeichnete und ihre Zeugenaussage als unbeachtlich einstufte waren , nach Ernennung auf Lebenszeit, die gleichen Zeugen glaubwürdig.
    Und vergessen wir nicht den Fall jenes Richters, der es wagte in einem Urteil gegen den damaligen NPD-Vorsitzenden Günther Deckert an diesem auch positive Charaktereigenschaften erkennen zu wollen. Es kostete dem Richter auf Lebenszeit die Existenz, denn selbst harmlose differenzierte Betrachtungsweisen werden von den „Demokraten“ nicht geduldet.
    Ein Gießener Verwaltungsrichter stellte sich in einem Verfahren in dem es um Meinungsfreiheit ging, auf den Standpunkt, daß man sagen dürfe, daß von Asylanten auch Morde begangen würden und begründete dies seitenlang mit Beispielen für solche Straftaten. Das Bundesverfassungsgericht entschied, daß dieser Richter ungeeignet sei um in Asylverfahren zu entscheiden, d.h. selbst ein Richter, der etwas sagt was sachlich nicht bestritten werden kann, riskiert in dieser freiheitlichsten aller freiheitlichen Demokratien seine Existenz. Selbstverständlich weiß damit aber auch jeder andere Richter, welche Entscheidungen von ihm erwartet werden und er wird sich daran halten so wie sich die Richter der Kriegsgerichte einst daran hielten was von ihnen erwartet wurde.

  2. Krönert

    sehr ,sehr treffend beschrieben!!

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