Früher gab es intelligente Linke. Von den intelligenten Linken der 1968er-Generation sind viele inzwischen politisch weit nach rechts gerückt. Mit zunehmendem Lebensalter gerät doch mancher in engen Kontakt mit dem realen Leben. Mein Vater pflegte mir früher schon zu sagen: “Wer mit 18 kein Kommunist ist, hat kein Herz, und wer es mit 40 noch ist, hat keinen Verstand.”

Von intellektuellen Linken liest man immer weniger. 1989 brach der real existierende Sozialismus flächendeckend zusammen. Von diesem Schicksalsschlag haben sie sich nicht erholt. Viele flüchteten sich in einen neuen gefühligen Moralismus ohne konsistente Ideologie im alten, marxistischen Sinne. Die Zeit ihrer großen weltanschaulichen Entwürfe ist vorbei.

Ein paar Epigonen gibt es noch. Sie versuchen verzweifelt, den Anschluß an das intellektuelle Niveau früherer Linker zu halten. Es gelingt ihnen nicht. Da ihnen “der Kapitalismus” als Feindbild abhanden bekommen ist und sie keine Erlösungsutopie mehr anzubieten haben, arbeiten sich manche an einem neuen Feindbild ab. Für Linksextremisten ist das natürlich der Rechtsextremismus oder was sie dafür halten.

Wer einen weltanschaulichen Gegner überwinden will, muß ihn als erstes verstehen. Die  gegnerischen Denkstrukturen, Positionen und Begriffe müssen richtig analysiert und erklärt werden. Schon bei diesem ersten Schritt in die geistige Arena straucheln Menschen, wenn sie nicht gelernt haben, gründlich und vollständig zu lesen und das Gelesene zu begreifen.

Da arbeitet jemand als Lehrer[1]; sein Hobby ist “Rechtsextremismusforschung”, und 2018 publizierte er ein Buch über “Die »Neue Rechte« in der Grauzone zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus”. Schreckliches meint er gelesen zu haben:

“Während die Forderungen nach mehr direkter Demokratie noch keinerlei Anzeichen einer bestimmten politischen Orientierung beinhalten oder in dem Verdacht stehen, extremistischen Positionen Zugeständnisse zu machen, zeigt sich bei der ‘Neuen Rechten”, dass der Ausbau von direkten Partizipationsmöglichkeiten der Bürger nur vordergründig zur Stärkung der Demokratie beitragen soll. Es geht vor allem darum, daß System der Bundesrepublik Deutschland abzuschaffen.”

Patrick Keßler, Die ‘Neue Rechte’ in der Grauzone zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus?, Berlin 2018, S.147 f.

Leider verwechselt Keßler, von welchem System denn gerade die Rede ist, wenn er einen verfassungsrechtlichen oder soziologischen Text liest. So wirft er in fröhlicher Einfalt alles in einem Topf durcheinander, was doch zu auseinanderzuhalten – zu ana-lysieren – wäre. So bedeutet der Begriff System in der Soziologie oder Systemtheorie etwas völlig anderes als im verfassungstheoretischen Diskurs.

Wer will denn “das System der Bundesrepublik Deutschland abschaffen”? Schreibt oder fordert jemand so etwas? Keßler meint es zu wissen und behauptet kühn:

KESSLER (2018) S.148

Ging es aber dabei um “das System der Bundesrepublik Deutschland” im verfassungsrechtlichen Sinn, also um die freiheitliche demokratische Grundordnung? Mitnichten, es ging um den soziologischen Begriff des selbstreferentiellen Systems:

Der Parteienstaat hat nur eine Sollbruchstelle. Bisher hat sie gehalten und kann noch solange halten, wie die Bürger ihn sich gefallen lassen. Eine Strategie der Sy­stem­über­­windung kann nur je nach Lage der Dinge, also jetzt und hier, anhand der dargestellten Machtverhältnisse und Spielregeln entworfen werden. Da die Machtverhältnisse, also zum Beispiel der Besitz der Medien, keinen direkten Zugriff möglich machen, muß ein archimedischer Punkt gefunden werden, von dem aus das allmächtige Parteiensystem aus den Angeln gehoben werden kann. Es muß ein geistiges Samenkorn gelegt wer­den, das keimt, die verfilzten Machtstrukturen durchdringt und schließ­lich den Deckel des selbstreferentiellen Systems sprengt.

Klaus Kunze, das Plebiszit als Sollbruchstelle des Parteienstaates, Vortrag vom 11.11.2007, http://klauskunze.com/kanzlei/presse/db1.htm.

Ein selbstreferentielles System ist nach Niklas Luhmanns Systemtheorie eines, das nicht mehr von außen beeinflußbar ist, sondern

nur noch auf Ver­änderun­gen im eigenen Sy­stem rea­giert. Die Po­litik in der Bundesrepu­blik ist selbst­re­fe­ren­tiell als Koa­lition von be­am­te­ten Politikern und politi­sier­ten Be­amten, um­ge­ben von Jour­na­listen des öf­fent­lich-rechtli­chen Rund­funks. Derar­tige Systeme ha­ben die Tendenz, sich zu­neh­mend zu verselb­stän­digen – hier gegen­über dem Gesamt­system “Ge­sellschaft”.[2] Damit ist aber der Eli­ten­plura­lismus und damit eine tragende Säule der Selbst­recht­fer­tigung des Sy­stems außer Kraft ge­setzt. Sie lautet, daß die “De­mo­kratie” in­sti­tutio­nell und tat­säch­lich offen und durchlässig für kon­kur­­rierende Eliten sein muß.

Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1994, S.24.

Soziologie? Das ist manchen Leuten zu hoch. Darum noch einmal ganz langsam zum Mitschreiben:

Der Parteien­­staat ist im Zeitalter der industriellen Massengesellschaft unüberwindlich, so­lange er deren objektive Funkti­onsbedingun­gen und den Machterhalt ihrer Hauptnutznießer optimal garantiert. Er ist ein Ge­mein­we­sen, in dem
(I.) – soziologisch gesehen – sich gesellschaftliche Kräfte des Staates bemächtigt und eine absolute Ge­sell­schaft installiert haben,
(II.) in dem es verfassungsrechtlich gesehen keine Gewal­tenteilung mehr gibt, weil alle Staats­ge­wal­ten von den­selben gesellschaftlichen Kräften kon­trolliert werden,
(III.) ökonomi­sch diese Kräfte eine sie begünstigende Ordnung durchgesetzt haben
(IV.) und ideologisch ihre Macht durch eine Herrschaftsideolo­gie absichern,
wobei jedes dieser vier Merkmale mit den anderen in einem notwendigen funktionalen Zusammenhang steht.

Klaus Kunze (2007) a.a.O.

Die Parteienstaatlichkeit funktioniert wie ein selbstreferentielles System. Sie erneuert sich immer wieder aus sich selbst heraus und ist durch Wahlen praktisch schwer zu beeinflussen. Wie eine Schlingpflanze überwuchert sie die im Grundgetz verankerte freiheitliche demokratische Grundordnung.

Von dieser ist sie keineswegs vorgesehen. Der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim bedauert das und zeigt in seinem 2001 erschienenen Buch “Das System” auf,

daß unsere Verfassung in Teilen abgedankt und eine ganz andere Art von Realvefassung die Herrschaft angetreten hat. Im Laufe der Zeit wurde hinter der demokatischen Fassade ein System etabliert, in dem völlig andere Regeln gelten als die des Gundgesetzes. Dieses im Verborgenen wuchernde inoffizielle Zweite System unterläuft das offizielle System und beeinträchtig seine Funktionen. Es führt dazu, daß sich zwischen unseren Idealen und der Wirklichkeit, zwischen Norm und Realität, eine riesige Lücke auftut.
Wer darüber spricht, droht das ganze System zu delegitimieren und provoziert deshalb Widerstand und Widerspruch auf breiter Front. Die ungeschminkte Darstellung der Lücke stellt den Kern der überlieferten Ideologie von Staat und Politik in Frage und bestreitet, daß unsere repräsentative Ordnung in der derzeitigen Form die beiden Grundprinzipien Demokratie und Gemeinwohl noch sichert.

Hans Herbert von Arnim, Das System, 2001, S.26 ff.

Daß Volksabstimmungen dazu geeignet sind, von außen dieses selbstreferentielle System aufzuknacken und wieder eine offene Gesellschaft zu ermöglichen, offen auch für Veränderungen und etwaige Elitenwechsel, habe ich schon 1994 in “Der totale Parteienstaat” geschrieben und sie gefordert. Natürlich würden Volksabstimmungen nicht das verfassungsrechtliche “System der Bundesrepublik Deutschland abschaffen”, sondern innerhalb der freiheitlichen demokratischen Grundordnung die von ihr gar nicht vorgesehene Herrschaft immer wieder derselben Parteieliten beenden. Diese fürchten das Volk darum wie der Teufel das Weihwasser.

Immer bleibt die bloße Repräsentation gegenüber der Idee der Demokratie als eine “Minderform” zurück, wie der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte, als bloß

‘zweiter Weg’, der sein Defizit an eigentlicher Demokratie nicht verbergen kann. […] In seiner Augestaltung hat jedes Element unmittelbarer Demokratie, das in sie eingebracht wird, eine höhere Legiimität, stellt ein ‘Mehr an Demokratie’ dar. Die Tendenz der Ausgestaltung muß dahin gehen, die Elemente der Repräsentation und Mittelbarkeit, wennsie schon nicht ganz zu entbehren sind, doch zurückzudrängen und zu vermindern.

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, Hannover 1983, S.7.

Das Demokratieprinzip steht der selbstreferentiellen Herrschaft immer wieder derselben Parteieliten entgegen. Es ist “das elementarste Sicher­heits­ven­til ge­gen oli­garchi­sche Gift­dämpfe,” wie der Kölner Professor Robert Michels als Begründer der wissenschaftlichen Soziologie schon 1911 schrieb.[3]

Kein Gegengift gibt es hingegen gegen Dummheit, die unfähig ist, wissenschaftliche Texte zu lesen oder das Gelesene zu verstehen.

Plebiszite sind das beste Gegengift gegen oligarchische Giftdämpfe.



[1] Angaben nach Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte, 1.5.2018, https://www.frankfurter-hefte.de/autor/patrick-kessler/, abgerufen am 4.12.2019.

[2] Erwin Scheuch, Parteien und Politiker in der Bun­des­re­pu­blik (alt) heute, Hrg.Wirtschaftsvereinigung der CDU in NRW, Düsseldorf 1991, S.30 u. S.121.

[3] Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demo­kratie, 1911, 4.Aufl.Stuttgart 1989, S.93