Wir werden in Geld umgerechnet
Der Kapitalist hat nichts gegen Schönheit. Sie darf aber keine Mehrkosten verursachen. Heldentum – gern – wenn es etwas einbringt. Moral? Jederzeit, vor allem wenn der Beutel dabei klingelt. Der Nobelpreisträger Konrad Lorenz warnte schon 1979 vor dem rein ökonomischen Wettbewerbsdenken, das ausschließlich von wertblinden, kommerziellen Erwägungen bestimmt ist.[1]
Als Wert werde von der heutigen Mehrheit nur noch empfunden,
„was in der mitleidlosen Konkurrenz erfolgreich und geeignet ist, den Mitmenschen zu überflügeln. Jedes Mittel, das diesem Zwecke dienlich ist, erscheint trügerischerweise als ein Wert in sich. Man kann den vernichtend sich auswirkenden Irrsinn des Utilitarismus als Verwechslung der Mittel mit dem Zweck definieren. […] Wie viele Menschen aber gibt es heute noch, die einen überhaupt noch verstehen, wenn man ihnen erklären will, daß Geld an sich keinen Wert darstellt?“ [2]
Konrad Lorenz
Je nach Aspekt gibt es voneinander ganz unabhängige Sachgebiete unserer Existenz. Die Ökonomie ist nur eines von ihnen. „Nehmen wir an, daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich, im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel.“[3] Wir können ein Problem moralisch nehmen, es politisch angehen, als ästhetisches Phänomen betrachten oder unser Handeln durch die Erwägung leiten lassen, was uns ökonomisch am nützlichsten ist.
Ein ausgewogener Charakter wird bei sich im Leben stellenden Entscheidungen abwägen, welchem Aspekt er im Einzelfall den Vorzug gibt. Eine komplexe Ideologie oder ein Ideologe ist dazu nicht imstande. Aus der Warte des nur politischen Menschen ist die Unterscheidung zwischen freundlich oder feindlich so grundlegend, daß er die ästhetischen, moralischen oder ökonomischen Gegengründe beiseite schiebt. Ein ausschließlich an seinem ökonomischen Eigennutz Orientierter wird nicht zögern, für Geld seine Oma zu verkaufen, Moral hin oder her.
Die Tyrannei der Werte
Der zentrale Wert jedes Sachgebietes verlangt nach seiner eigenen unbedingten Durchsetzung. Wer seine Lebenseinstellung ausschließlich am Primat der Moral, des Politischen oder der Ökonomie ausrichtet, fällt der Tyrannei seines Wertbegriffes zum Opfer: dem Nützlichkeitsdenken, der Moralität oder einem anderen. Jede als höchster Wert gesetzte Handlungsmaxime „verlangt“ ihre eigene strikte Durchsetzung. So zählt für den idealtypischen Kapitalisten nichts als Geld. Seine politische Ideologie ist der Liberalismus, ein umfassendes Gedankengebäude, in dem philosophische, anthropologische, ökonomische und politische Annahmen sich wechselseitig bedingen und stützen.
Unablässig ist der Liberalismus an der Arbeit, mit €- und $-Zeichen zu etikettieren, was immer global Menschen wertvoll ist: Bodenschätze werden gehoben, Wälder gerodet, Wasserkraft ausgebeutet, Kunst „auf den Markt“ geworfen, und zuguterletzt verwandelt sich der menschliche Körper in eine Handelsware, die auf Porno-Seiten für Geld vermarktet wird. „Indem er alle gesellschaftlichen Erscheinungen auf eine Welt meßbarer Dinge reduziert, verwandelt er letztlich selbst die Menschen in Dinge – in ersetzbare und austauschbare Dinge, vom Standpunkt des Geldes aus gesehen.“[4]
Das originäre Regierungssystem des Liberalismus ist seit dem 19. Jahrhundert der ursprünglich englische Parlamentarismus, der uns in Deutschland heute als Parteienstaat vor Augen steht. Beide, das Phänomen Parlamentarismus und seine liberale Herrschaftsideologie, dienen letztlich der Aufrechterhaltung eines bestimmten Status quo, in dem sich faktische Machtpositionen normativ ausprägen[5] und stabilisieren. Es ist die Macht derer, die ihren ökonomischen Vorteil aus einer Wirtschaftsverfassung ziehen,[6] in der ein freies Spiel der Kräfte weitestmöglich ist.
Ihre Gesetzmäßigkeiten führen innerstaatlich und international zu analogen Wirkungen: Freie Geldwirtschaft begünstigt den ökonomisch Starken dadurch entscheidend, daß er alle anderen als ökonomische Kräfte wirksam aus dem Kreis der allgemein akzeptierten Spielregeln ausschließt. Der ökonomisch Schwache soll sich nicht mehr mit anderen als ökonomischen Mitteln wehren dürfen: vor allem nicht mit Gewalt. Um ihre finanzielle Überlegenheit voll ausspielen zu können, mußten theoretisch alle entgegenstehenden Wertvorstellungen ausgeschaltet und nur die harmlose Diskussion übrig gelassen werden.
Lauterbach ist nicht charakterschwach, sondern gut angepaßt
Als Untugenden galten einst: Habsucht, Verschwendung, Egoismus, Untreue oder Drückebergerei. Der Kapitalismus drehte die Werteordnung auf den Kopf: Er benötigt Habsucht als Motor der unbegrenzten Akkumulation von Kapital. Sparsamkeit als Wert mußte der absatzfördernden Verschwendungssucht weichen. Wer in Treue fest steht, eignet sich nicht für eine Gesellschaft bindungsloser Individuen. Was nach der Abwertung von Treue zu einem gegebenen Wort und treuer Pflichterfüllung für eine Gemeinschaft geschieht, zeigt uns das historische Beispiel der USA seit dem 19. Jahrhundert: Korruption beherrscht das System. Für Geld kann man dann buchstäblich „alles kaufen“: Polizisten sind etwas billiger, Richter oder Minister deutlich teurer, es ist aber alles nur eine Frage des Betrags.
Die Korruption ist die konsequente Folge von Liberalismus und notwendige Begleiterscheinung einer Ideologie, in der nur persönliche Bereicherung zählt. In Deutschland ist nicht so bekannt oder vergessen worden, wie sie in New York, der Hochburg des Kapitalismus, schon früher funktionierte. Darum sei hier ausnahmsweise aus einer leicht zugänglichen, aber nicht zitierfähigen Quelle zusammengefaßt: Auf dem Höhepunkt seiner Macht war Senator William Tweed (1823-1878) der drittgrößte Grundstücksbesitzer der Stadt. Er besaß Banken und Eisenbahnen und bekannte sich offen dazu korrupt zu sein.
Ab 1865 regierten William Tweed und seine drei loyalen Freunde Peter B. Sweeny, Richard B. Connolly und A. Oakey Hall New York wie Despoten. Als Tweed 1870 zum Commissioner of public works (öffentliche Arbeiten) in New York ernannt wurde, ermöglichte ihm dies Korruption in großem Stil. Er kaufte z. B. 300 Bänke für 5 $ pro Stück und verkaufte sie an die Stadt für 600 $. Tweed organisierte auch den Bau des City Hall Park (Rathauspark). Die ursprünglich geschätzten Kosten von 350.000 $ beliefen sich nach Fertigstellung auf 13.000.000 $.
Der weltgrößte Pharmakonzern Pfizer war schon 2012 auffällig geworden: Er akzeptierte eine Strafzahlung von 60 Millionen $ (48 Millionen €), um den Vorwurf der Korruption im Ausland auszuräumen. „Wie das US-Justizministerium [..] mitteilte, muß Pfizer wegen Schmiergeldzahlungen in Bulgarien, Kroatien, Kasachstan und Rußland ein Bußgeld in Höhe von 15 Millionen Dollar zahlen. Pfizer habe versucht, seine Geschäfte in mehreren Ländern durch die Zahlung von Schmiergeldern an Regierungsvertreter zu beschleunigen, erklärte ein Ministeriumsvertreter des US-Justizministeriums.“[7] Als die SPD am 11.12.2021 einen Parteitag abhielt, bedankte sie sich öffentlich bei ihren „Sponsoren“, unter ihnen Pfizer. Ralf Hanselle fragte am 16.12.2021 im Magazin Cicero:
„Muß man sich wundern, wenn manche dem neuen Gesundheitsminister Karl Lauterbach mit seiner Booster-Kampagne eine zu große Nähe zur Pharmaindustrie unterstellen?“[8]
Ralf hanselle, Rent a Sozi, Cicero 16.12.2021
Am 12.12. warb der neue SPD-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in der ARD-Sendung „Anne Will“ für die dritte, die sogenannte “Booster”-Impfung. Am 15.12. kündigte sein Ministerium an, Corona-Impfstoffe für 2,2 Milliarden € nachzukaufen.
Lauterbach hat sich – je nach Wertemaßstab – unlauter verhalten, aber nicht illegal. Aus liberaler Sicht ist es sogar legitim, wenn ein US-Konzern, der Unsummen am deutschen Steuerzahler verdient, dankbar die SPD unterstützt. Legitim ist es schon schon allein, weil es ökonomisch nützlich ist und der echte Liberalismus keinen höheren Wert als die Nützlichkeit kennt.
Die kleine Aufmerksamkeit des Pharmagiganten galt formal der SPD. Die hat aber bei Pfizer nichts gekauft. Moderne Korruption schmiert nicht den Busfahrer, der auf sein Glück und seine rosige Zukunft hinlenkt. Sie schmiert seinem Bus die Achsen.
Korrupte Menschen sind nicht unbedingt charakterschwach oder böse. Sie sind nur an ein bestehendes System perfekt angepaßt.
Im System angelegt
Korruption ist im reinen Kapitalismus systemisch angelegt. Ob und wie sehr sie noch bekämpft wird, bildet einen Gradmesser dafür, wie weit die Liberalisierung sich bereits durchgesetzt hat. Weil Korruption auf dem menschlichen Bestreben nach Eigennutzen beruht, gab und gibt es sie in allen Staatsformen und Gesellschaften. Wie Unkraut wächst sie überall, wo man sie nicht ausjätet. Liberalismus ist die Ideologie, die den Gärtner abschaffen will. Es gab sie zum Beispiel auch im Köln unserer Kaiserzeit, als sich Polizeiinspektoren von Cafe- und Gaststättenbesitzern wie Peter Josef Früh kostenlose „Inspektorenfrühstücke“ munden ließen oder Präsentkörbchen mitnahmen. Damals endete das freilich noch mit der Verurteilung des Inspektors, der Geschenke annahm. Der Staat war noch kein liberaler Nachtwächterstaat, sondern wirklich wach.
„Gärtner“ und Gegner der Korruption sind immer der Staat und seine Rechtsordnung. Vor seiner Entstehung beruhte die Gesellschaft, wie bei der Lehnesordnung, nur auf Beziehungen zwischen Personen. Schmiergeld nannte man liebevoll Handsalbe und fand nichts Schlimmes daran. Selbst die Kurfürsten bei der Königswahl waren bestechlich. Erst durch die Staatlichkeit der Neuzeit setzte sich die Idee überpersönlichen, gemeinschaftlichen Handelns durch: Der Staat konnte nicht dulden, daß seine Beamten ihm nicht gehorchten und sich kaufen ließen. Pflichttreue wurde zur neuen Tugend. Strafgesetze gegen Korruption erwiesen sich auch in Monarchien als unverzichtbar. Bis heute bilden staatliche Strafdrohungen gegen Korruption ein Bollwerk gegen die vollständige Liberalisierung. Der Staat und seine Gesetze bilden das immerwährende Haßobjekt all derer, die ihr Schäfchen am Gemeinwohl vorbei ins Trockene bringen möchten.
Das Maß an Staatlichkeit eines Gemeinwesens läßt sich am Gradmesser der Korruption ablesen. Sobald sie ein Staatswesen völlig konsumiert hat, hat sich der Staat als Sachwalter des Gemeinwohls faktisch aufgelöst und sich an seiner Stelle eine Oligarchie diverser Partei- und Privatinteressenten gebildet.
[1] Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, 9.Aufl. 1978, S.33.
[2] Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, 9.Aufl. 1978, S.34.
[3] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, S.26.
[4] Alain de Benoist, Gegen den Liberalismus, 2021, S.83.
[5] Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3.Aufl.1929, S.337 ff.
[6] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, S.66.
[7] Ärzteblatt 9.8.2012 nach afp.
[8] Ralf Hanselle, Cicero 16.12.2021.
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