So weit sind wir schon gekommen: Im September 2020 aß ich an einer Landstraße in Mittelhessen eine Currywurst. Ein hinzukommender Kunde duzte sich mit dem Inhaber des Wurststandes und erzählte: Die seien „mit 30 Vermummten gekommen und hätten dem einen Hund aus dem Zwinger“ geholt, „diese roten Nazis!“
Ich fragte neugierig nach, was da geschehen sei. Damit war das Gespräch zuende. „Ich rede über so was mit niemandem, den ich nicht kenne. Das ist heutzutage viel zu gefährlich!“
Inzwischen meinen „nach einer Allensbach-Umfrage zwei Drittel der Deutschen, daß man hierzulande aufpassen müsse, was man sagt. Es wird nicht mehr auf die Argumente gezielt, die man gebracht hat, sondern sofort auf die eigene Person, wobei Stichworte ausreichen, um ein extremistisches Weltbild zu unterstellen und hierzu Aussagen bewußt verkürzt werden.“[1] „Das Institut für Demoskopie Allensbach hat in einer repräsentativen Studie den Mut der Deutschen untersucht, sich zu politischen Themen zu äußern. Gefragt hatte Allensbach zwischen dem 3. und 16. Mai 2019 insgesamt 1.283 über 16 Jahre alte Deutsche. Das Ergebnis ist mehr als erschreckend. Denn: Nur noch etwa jeder sechste (17 bis 18 Prozent) fühlt sich im Internet bzw. in der Öffentlichkeit frei, die eigene Meinung zu sagen. Nur 59 Prozent meinten, sie könnten sich unter Freunden frei äußern. Das heißt nichts anderes, als daß rund 40 Prozent sich nicht einmal mehr dies trauen.“[2]
Früher kannte ich Ängste, seine Meinung zu sagen, nur aus der DDR. Als ich dort mit Verwandten 1973 in einem HO-Restaurant saß und mich unterhielt, dämpfte man mich sofort akustisch: „Der am Nebentisch ist von der FDJ!“, hieß es. Ich erzählte darauf recht stolz, was ich in der Aula meines Gymnasiums an einem 17. Juni in einer Festrede gehört hatte: Wir lebten damals im „freiesten Staat auf deutschem Boden“. Meine DDR-Verwandten waren beeindruckt: Sie wollten auch gern so frei sein.
Die Freiheit, seine Meinung ohne Angst vor Repressalien zu äußern, gehörte zu den wesentlichen Errungenschaften unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Art.5 Absatz 1 GG garantiert: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ Als das Grundgesetz 1949 erlassen wurde, war die Angst vor staatlicher Verfolgung Andersdenkender groß. Man hatte bis 1945 erlebt, daß man wegen einer kritischen Ansicht ins Gefängnis kommen konnte, und für die unter sowjetischer Herrschaft stehenden Teile Deutschlands galt das unvermindert fort.
Heute kann jemand, auch von Staats wegen, wieder benachteiligt werden, wenn er sich nicht linientreu verhält. Oft geht direkter Meinungsdruck von unserem Staat selbst oder unter staatlicher Verantwortung stehenden Institutionen aus. Der Verfassungsrechtler Bodo „Pieroth sieht es als problematisch an, wenn der AStA einer Universität (als Organ einer Gliedkörperschaft der Hochschule selbst Teil der öffentlichen Gewalt) eine Studentenverbindung angreift. Wenn „ein Uni-Rektor Maßnahmen gegen ein Seminar mit Thilo Sarrazin ergreift“, oder „wenn eine Berufungskommission einen Bewerber deshalb nicht berücksichtigt, weil er vor ‚falschem‘ Publikum vorgetragen oder in einem ‚falschen‘ Organ publiziert hat, sind das nicht zu rechtfertigende Eingriffe und damit Verletzungen der Meinungs- bzw. Wissenschaftsfreiheit“.[3]
Faktisch verwandelte sich unser früher erzliberaler Staat punktuell in einen peitscheschwingenden Dompteur des Meinungsklimas, wo hoch ideologisierte Einflußgruppen ihn sich zur Beute gemacht haben und seine Staatsorgane mißbrauchen. Wer gegen die neue Ideologie und ihre Interessentengruppen ist, wird dann zum Staatsfeind erklärt und gesellschaftlich geächtet. Der Staat fördert mit Millionenbeträgen einen generellen „Kampf gegen Rechts“. Rechts sind aber alle politischen Ansichten rechts der CDU, ganz gleich, ob sie radikal sind oder gemäßigt, verfassungstreu oder verfassungsfeindlich. Damit verstößt unser Staat gegen das demokratische Grundprinzip unserer Verfassung, wonach alle Meinungsbildung vom Volk zu den Staatsorganen stattfinden muß und nicht umgekehrt.
Meinungsdruck und -furcht
Heute haben viele wieder Angst und schweigen lieber. Sie fürchten zum Beispiel, ihnen könnte nachts vor der Haustür das Auto angezündet werden, sie bangen um ihren Arbeitsplatz oder davor, in sozialen Medien förmlich in der Luft zerrissen zu werden. Manche befürchten auch, eine Polizeieinheit könnte morgens früh um sechs Uhr klingeln und den Computer beschlagnahmen. „Habe ich auf Facebook etwas Verbotenes »geteilt«?“ Solche Ängste sind nicht immer aus der Luft gegriffen.
Allein aus meiner anwaltlichen Tätigkeit sehe ich eine Vielzahl von Fällen beruflicher Diskriminierung. Eine junge Kindergärtnerin verlor ihre Arbeit. Ihr „christlicher“ Arbeitgeber war ein der Caritas verbundener Verein. Er hatte ihr fristlos gekündigt, weil sie auf einer Demonstration von „Frauen gegen Gewalt“ hinter einem Transparent gesehen wurde: „Refugees not welcomed“. Das verstoße gegen „die Nächstenliebe“, hieß es. Immerhin hat sie den Kündigungsschutzprozeß gewonnen.[4]
Ein in einer VW gehörenden Betriebs-GmbH beschäftigter Koch wurde eines Tages vom Werkschutz nicht mehr auf das Gelände der VW AG gelassen und konnte seinen Arbeitsplatz in der Firmenkantine nicht erreichen. Auch ohne daß ihm jemand gekündigt hätte, stand er draußen vor der Tür, nachdem er von Linksextremisten im Internet als ganz böser Junge dargestellt worden war.
Die Liste solcher Vorkommnisse ließe sich beliebig verlängern. Sie sprechen sich herum. Es gibt immer mehr „Leute, die eigentlich gar nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber zum Beispiel den Fehler gemacht haben, die falsche Demonstration zu besuchen oder auf ihrem privaten Facebook-Account einen falschen Beitrag geteilt oder ihm zugestimmt zu haben und danach ihren Job los waren.“[5] Es trifft gewöhnliche Arbeitnehmer inzwischen genauso wie Angehörige des öffentlichen Dienstes: Ein schwerbehinderter Lagerarbeiter beleidigte angeblich ausländische Kollegen, von denen er sich schikaniert fühlte: gekündigt. Sein Verhalten sei für ein „international tätiges Unternehmen keineswegs zu akzeptieren“.[6] Das Autokennzeichen eines Angestellten des Bundesamts für Migration mit besten Beurteilungen wurde parkend in der Nähe eines „Skin-Konzertes“ notiert: gekündigt.[7]
Arbeitgeber oder Personalchefs handeln oft nicht nach dem Arbeitsrecht, sondern möchten nur in den Augen der Presse als die moralisch Guten dastehen. Auch wenn man Arbeitnehmern gegen willkürlichen Rausschmiß gerichtlich helfen kann, ist ein gewolltes Klima allgemeiner Einschüchterung entstanden. Selbstbewußt und frei seine Meinung zu sagen war einmal der Stolz mündiger Bürger. Viele haben sich inzwischen in Duckmäuser oder Heuchler verwandelt.
In der Schweigespirale gefangen
Die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann hatte vor Jahren das Phänomen der Schweigespirale beschrieben: Wer sich gesellschaftlich in der Minderheit glaubt, schweigt lieber, um nirgends anzuecken. Wenn viele schweigen, erfahren sie nicht voneinander und halten sich erst recht für Außenseiter im Meinungsspektrum. Seit reale Nachteile drohen, seine Meinung zu äußern, verschärft sich die Wirkung der Schweigespirale weiter.
Am 1.9.2020 publizierten Gunnar Kaiser und Milosz Matuschek einen „Appell für freie Debattenräume“ und beklagen: „Zensierte Karikaturisten, pauschal verbotene Demonstrationen, Schriftsteller, deren Bücher aus dem Sortiment genommen werden oder von Bestsellerlisten getilgt werden. Verfolgte und eingesperrte Whistleblower & Enthüller, Opernaufführungen, die abgesagt werden. Seminare oder Vorlesungen, die nicht stattfinden können, weil sie gestört werden. Verlage, die gedrängt werden, bestimmte Bücher nicht herauszubringen. […] Absagen, löschen, zensieren: seit einigen Jahren macht sich ein Ungeist breit, der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt und die Grundlage des freien Austauschs von Ideen und Argumenten untergräbt. Der Meinungskorridor wird verengt, Informationsinseln versinken, Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens werden stummgeschaltet und stigmatisiert.“[8]
Bezeichnenderweise ging die Tendenz, in einem Staat trotz demokratischer Verfassung die Meinungsfreiheit einzuengen, immer von den USA aus. Wir mußten importierte amerikanische Begriffe wie Political correctness und Cancel Culture und Shitstorm als Fremdworte erlernen. Alexis de Tocqueville beobachtete und beschrieb schon 1835 ihre unverändert aktuellen Ursachen: Gerade in einem Staat mit demokratischer Mehrheitsfindung besteht die Gefahr, daß die Mehrheit Meinungsdruck auf die Minderheit ausübt, und zwar nicht etwa staatlichen Druck durch diskriminierende Gesetze, sondern einen gesellschaftlichen Druck. Wer eine Minderheitenansicht äußern wolle und dafür Schutz benötige, treffe in Staat und Gesellschaft überall wieder auf dieselbe, ihm entgegenstehende Mehrheit, bis er resigniert schweige.
Im Kapitel über die „Macht, welche die Mehrheit auf die Gedanken ausübt“, kennzeichnet Tocqueville ihre geistige Tyrannei mit den Worten: „Du magst frei denken, anders als ich. Dir bleiben Leben, Güter und alles, aber von diesem Tage an bist du ein Fremder unter uns! […] Und diejenigen, welche dich für unschuldig halten, werden dich verlassen, denn sonst wird man auch sie vermeiden.“[9] Dieses Phänomen wird aktuell unter dem Schlagwort der Kontaktschuld diskutiert: Es wird ausgegrenzt, wer mit einem schon Ausgegrenzten Kontakt hatte.
Somit weiß bald jeder, mit wem er nicht reden und was er bei Meidung gesellschaftlicher Ächtung nicht meinen darf. Der Staats- und Verfassungsrechtler Sebastian Müller-Franken beobachtete, daß „neben universitären vornehmlich journalistische, kulturelle, politische sowie neuerdings auch wirtschaftliche Eliten damit begonnen“ haben, „den Korridor abzustecken, innerhalb dessen die öffentlichen Diskurse abzulaufen haben.“[10] Wer sich außerhalb des abgesteckten Rahmens bewegt, wird nicht eingeladen, nicht zitiert, nicht wahrgenommen. Eine gleichgerichtete linke Meinungsblase wirkt in sich wie eine Echokammer. Beständig raunt man sich untereinander zu, wie wichtig man doch sei, und hält sich am Ende selbst für den berufenen Interpreten des moralisch Guten und für einen Vollstrecker des wünschenwertens Fortschritts.
Es werden bestimmte inhaltliche und sprachliche Konventionen durchgesetzt durch die „Drohung, daß sich der Abweichler isolieren,“ also durch die bekannten Mechanismen der Schweigespirale selbst „zu schützen“ wisse. „Da es den Hütern der Konventionen strategisch stets darum geht, unter dem Aspekt der Diskriminierung die Diskussion moralisch aufzuladen, befindet sich derjenige, der die Konvention verletzt, nicht einfach nur in einem Irrtum, sondern er ist unanständig.“[11]
Eine gewisse Kommunikation findet zwar innerhalb dieser gesellschaftlich dominanten Elite noch statt. An den Schaltstellen der Medien und Parteien beherrscht und lenkt sie das Meinungsklima. Sie möchte jeden zum Verstummen bringen, der ihre ideologischen Vorurteile nicht teilt. Wie in katholischen Zeiten der Häretiker oder Ketzer exkommuniziert wurde, wird heute jeder Abweichler von der Kommunikation ausgeschlossen: Aus Talk-Schauen wird er ausgeladen, Buchhändler werden bedroht, die seine Bücher verkaufen, und irgendwann wandert er als Unperson ist die Schatten des gesellschaftlichen Vergessens.
Der blinde Fleck im Auge der Verfassung
Solcher Mißbrauch gesellschaftlicher Macht erzeugt das Gegenteil der hoch geschätzten offenen Gesellschaft, nämlich eine geschlossene Gesellschaft der Hüter und oft Inquisitoren unseres Denkens. Aus dem freien Lebensklima noch der 1970er Jahre wurde ein stickiges Treibhaus. Der Staat versagt an seiner Aufgabe, die das Bundesverfassungsgericht ihm zur Pflicht machte: „Das Menschenbild des Grundgesetzes und die ihm entsprechende Gestaltung der staatlichen Gemeinschaft verlangen ebensowohl die Anerkennung der Eigenständigkeit der individuellen Persönlichkeit wie die Sicherung eines freiheitlichen Lebensklimas, die in der Gegenwart ohne freie Kommunikation nicht denkbar ist.“[12]
Der Staat kann seine Aufgabe nicht erfüllen, wo seine Schaltstellen von eben den gesellschaftlichen Kräften besetzt sind, die den Meinungs- und Konformitätsdruck erzeugen. Wo Staat und Gesellschaft in ihrem Zusammenwirken nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, kann es keine gesellschaftliche Freiheit mehr geben. Die Freiheit der Meinungen, des Publizierens und der Teilhabe am öffentlichen Diskurs werden zwar noch im Munde geführt und gern beschworen. Für sich selbst nimmt die linke Meinungselite auch gern jede Freiheit in Anspruch. Zugleich aber nimmt sie für sich das Definitionsrecht in Anspruch, welche Meinung „keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ sei.
Unser Grundgesetz sieht nur den Staat mißtrauisch als potentielle Bedrohung unserer Freiheit an. Seine Grundrechte sind Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe. Alles übrige, so stellt liberales Denken es sich vor, regelt „die Gesellschaft“ frei. Sie bildet einen blinden Fleck in der Wahrnehmung unserer Verfassung, weil sie grundsätzlich staatsfrei sein soll. Leider erzeugt diese Gesellschaft heute keine Freiheiten, sondern knebelt sie durch Konformitätsdruck.
Oft sind es nämlich gerade „gesellschaftliche Kräfte“, die Meinungen unterdrücken und Menschen zum Schweigen bringen. Dazu müssen sie niemanden in ein Gefängnis stecken und könnten das auch nicht. Sie vermögen aber unter den schläfrigen Blicken eines liberalen Nachtwächterstaates Existenzen zu vernichten. Wir müssen ihn aufwecken, damit er uns vor der übergriffigen Gesellschaft beschützt. Das ist seine Pflicht. „Die Meinungsfreiheit besitzt auch objektiv-rechtliche Wirkungsschichten, die dem Staat aufgeben, sich die Voraussetzungen ihrer Verwirklichung angelegen sein zu lassen.“[13] Diese haben sich seit Verkündung des Grundgesetzes 1949 grundlegend geändert. Meinungen werden heute in digitalen Medien geäußert, gebildet oder eben unterdrückt.
Eine „linkspopulistische Zivilgesellschaft mit ihren diversen NGOs“ ist „zur Waffe der linken Leitkultur geworden“ und macht „alles platt, was sich ihr entgegenstellt.“[14] Es wäre aber eine vornehme Aufgabe gerade für einen Meinungsfreiheits-Staat, diese Meinungsfreiheit zu schützen, wo ein solcher gesellschaftlicher Totalitarismus sie gefährdet. Sie ist für „die freiheitlich-demokratische Staatsordnung […] schlechthin konstituierend.“[15] Sie ist eines der „vornehmsten Rechtsgüter jeder freiheitlichen Demokratie. […] Ein Staat, der seine verfassungsrechtliche Ordnung als freiheitlich- demokratisch bezeichnet und sie damit in die große verfassungsgeschichtliche Entwicklungslinie der liberalen rechtsstaatlichen Demokratie einordnet, muß aus dem Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung ein grundsätzliches Recht der freien politischen Betätigung“ entwickeln.[16] Die Betätigung wird inzwischen häufig verhindert durch gesellschaftliche Druckmittel im Gewande der politischen Korrektnis und neuerdings der Abkanzelungs-Barbarei („Cancel-Culture“).
Artikel 3 GG lautet:
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Das Verbot politisch motivierter Benachteiligung aus Absatz 3 steht im Sinnzusammenhang zu Abs.1, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Darum lesen Verfassungsrechtler den Absatz 3 nur als Abwehrrecht gegen den Staat: „Weder aus Art. 3 Abs 1 GG noch aus den Grundsätzen der mittelbaren Drittwirkung folgt ein objektives Verfassungsprinzip, wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären. Grundsätzlich gehört es zur Freiheit jeder Person, nach eigenen Präferenzen darüber zu bestimmen, mit wem sie wann unter welchen Bedingungen welche Verträge abschließen und wie sie hierbei auch von ihrem Eigentum Gebrauch machen will.“[17]
Das genügt aber heute nicht mehr einschränkungslos. Es ist richtig, daß der Staat Privatleuten nicht vorschreibt, mit wem sie im Rahmen einer freien Wirtschaft Verträge schließen. Manchmal macht er das aber bereits. Das Antidiskriminierungsgesetz verbietet eine arbeitsrechtliche Ungleichbehandlung „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“, läßt sie allerdings erlaubt, wenn sie politische Gründe hat. Das AGG zieht damit die Konsequenz aus der Handlungsaufforderung aus Art. 3 Abs.2 GG: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
Auch die tatsächliche Durchsetzung der politischen Meinungsfreiheit wäre aber eine für die Demokratie relevante staatliche Aufgabe. Der Staat darf „nicht die Hände in den Schoß legen und so tun, als merke er nicht, wenn organisierte Gruppen der sogenannten „Zivilgesellschaft“ durch Kampagnen und sozialen Druck faktisch die Meinungsfreiheit einschränken.“[18] Der Verfassungsrechtler Sebastian Müller-Franken hält die Fähigkeit, Regeln für den öffentlichen Diskurs zu setzen, für nicht selten bedeutsamer als die Kompetenz zur Setzung staatlichen Rechts: „Das Parlament bzw. das die Rolle des Normsetzers usurpierende Verfassungsgericht vollziehen mitunter nur noch, was auf diesen Wegen vorgegeben ist.“[19]
Als Garant der Meinungsfreiheit versagt unser Staat überall, wo seine Amtswalter heimliche Gedankenkomplizen von Tätern sind: „So wäre es die Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, daß systematische Einschüchterung durch die Antifa beendet wird, daß Demonstrationen ohne Übergriffe aggressiver Gegendemonstranten stattfinden, daß ein Literaturfestival nicht aus Angst eine Kabarettistin auslädt, daß nicht ein Chef einer Filmförderung wegen eines privaten Mittagessens mit dem AfD-Vorsitzenden seinen Job verliert, daß an den Universitäten nicht ein Klima herrscht, in dem ein Vortrag von Thilo Sarrazin zur ultimativen Mutprobe wird.“[20]
Das staatliche Benachteiligungsverbot genügt in seiner bisherigen Form nicht mehr. Daß ein Funktionär einer mißliebigen Partei in einem Hotel kein Zimmer bekam, ließ das Bundesverfassungsgericht dem Hotel durchgehen: „Gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten können sich aus Art. 3 Abs. 1 GG nur für spezifische Konstellationen ergeben, so etwa bei einem einseitigen, auf das Hausrecht gestützten Ausschluß von Veranstaltungen, die aufgrund eigener Entscheidung der Veranstalter einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden und der für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheidet. Auch in anderen Fällen darf die aus einem Monopol oder aus struktureller Überlegenheit resultierende Entscheidungsmacht nicht dazu genutzt werden, bestimmte Personen ohne sachlichen Grund von einem bestimmten Ereignis auszuschließen.“[21]
Die Macht der Konformisierer
Es muß durch klare und angemessene Gesetze ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen den Interessen der großen Meinungsplattformen und ihren Nutzern. In London gibt es eine ‚Speaker’s Corner‘, wo sich traditionell im Hyde-Park jedermann hinstellen und frei reden darf. Ein solches Recht liefe leer, wenn ein Parkwächter ihm das Betreten des Parks verbieten könnte.
Ebenso nutzt unsere Meinungsfreiheit der Masse nichts, wenn sie ihre Meinung nicht auf dem Markt der Meinungen anbieten kann. „Sperren“ für die Nutzer der globalen Meinungsplattformen, weil jemand mit seiner Meinung „gegen die Nutzungsbedingungen“ verstößt, gehören gesetzlich verboten. Die im Silicon Valley ausgeknobelten „Nutzungsbedingungen“ von Quasi-Monopolisten wie Twitter oder Facebook dürfen uns im Geltungsbereich unseres Grundgesetzes und unserer Meinungsfreiheit nicht binden.
Schon 2001 schrieb der Australier Joel Sheperd: „Wir sind so abhängig vom Informationsnetz und glauben so felsenfest und ohne jeden Zweifel daran, daß ein freier Informationsfluß der Garant für alle Segnungen einer modernen pluralistischen Gesellschaft ist“, aber „die Netzwerke wurden von großen Institutionen geschaffen. Wer über Geld und Fachwissen und die notwendige Technologie verfügt, kann den Informationsfluß ebenso leicht manipulieren“ wie „einige Gesellschaften Printmedien und Fernsehen.[22]
Eine demokratische, auf Teilhabe setzende Gesellschaft kann es nicht dem Zufall überlassen, ob ihre Bürger freien Zugriff auf die im Internet verfügbaren Informationen haben. Sie darf nicht dem angeblich freien Markt anheimgeben, wer zu welchen Bedingungen diese Informationen monopolisieren könnte. Sie darf ihre Bürger vor allem nicht schutzlos dem ideologischen Konformitätsdruck ausliefern, der von den globalen Konzernen der Branche ausgeübt wird.
Er beginnt bei manipulativen Algorithmen wie bei der Bildsuche von Google anhand bestimmter Stichworte und endet bei direkter Bevormundung und Löschung einzelner Beiträge. Bei den meisten globalen Medienriesen, „auch bei Google, werden Bewerber auf Herz und Nieren getestet, um auszuschließen, daß jemand mit den falschen ideologischen Überzeugungen eingestellt wird. Diese Tests drehen sich um sexuelle, ethnische und kulturelle Vielfalt, und nur wer hier keinen Fehler macht, erhält den Job.“[23] Wer sich als Nutzer solcher Dienste bedient, sollte sich über ihren manipulativen Charakter keine Illusionen machen. Er darf nur im Rahmen der von dem Unternehmen gewünschten Konformität etwas meinen, sonst wird er umgehend zensiert. „Jüngst wurden bei der Konferenz zur Content-Moderation aktuelle Zahlen vorgelegt, denen zufolge bei Google etwa 10000 und bei Facebook mehr als 30000 Mitarbeiter damit beschäftigt sind, darauf zu achten, daß ihr Content politisch korrekt ist.“[24]
Theoretisch können wir uns in Bibliotheken oder im Internet jede gesuchte Information beschaffen. Von neuen Internet-Machthabern wie Facebook werden wir aber gezielt beeinflußt, auf welche Inhalte wir stoßen sollen. Forscher der New Yorker Universitäten untersuchten, wie Facebook Eigenschaften seiner Nutzer wie Hautfarbe, Geschlecht, Alter und andere nutzt, um sie „in politischen Kampagnen“ durch Werbeanzeigen mithilfe von „Microtargeting“ zur „(Des-)Information“ zu nutzen. Konformität kann man nicht nur erzielen, indem man uns von abweichenden Fakten und Ansichten fernhält. Noch wirkungsvoller ist es, uns gezielt mit den gewünschten Inhalten zu füttern oder zu überfüttern. „Das NYU-Team publizierte bereits Ergebnisse, die aufzeigten, daß Werbeanzeigen vornehmlich an User mit einer bestimmten Hautfarbe oder mit Veteranen-Status verteilt wurden, um dann eine ‚organische‘ Weiterverbreitung zu erzielen. Dabei wird ausgenutzt, daß bestimmte Behauptungen, inbesondere die vermeintliche Aufdeckung von Angriffen gegen eine Status-Gruppe, Emotionen schüren, die dann innerhalb dieser Gruppe (z. B. Veteranen, Waffenbesitzer) weitergeteilt werden. Wenn ein Empfänger auf eine Anzeige reagiert (darunter fallen: liken, teilen, anklicken etc.), kann er bevorzugt für zukünftige Kampagnen ausgewählt werden, da er eine Multiplikatorenfunktion einnimmt.“[25]
Es gibt nicht nur Ressourcen wie frisches Wasser, Wärme und Bildung, die wir nicht vollständig den Gesetzmäßigkeiten des freien Kapitalverkehrs aussetzen dürfen. Die freie Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation ohne Sperren und Hürden ist nicht nur zur Voraussetzung persönlicher Lebensgestaltung geworden, sondern auch zu einer Voraussetzung für die Legitimität unserer Demokratie. Der Staat muß sie gewährleisten. Weil wir aber gerade auch mit unter Parteienherrschaft gefallener Staatlichkeit die denkbar schlechtesten Erfahrungen haben, genügt es nicht, vom Staat ein parallel zu den privaten Konzernen einzurichtendes Diskussionsmedium zu verlangen. Eine Grundversorgung mit einer öffentlich-rechtlichen Medienanstalt muß geleistet werden, in der jedermann nach Belieben Diskussionsgruppen gründen und an allen Debatten teilnehmen kann. Dabei muß diese Einrichtung darauf beschränken, die Technik einzurichten, ohne sich selbst politisch einzubringen, zu zensieren oder zu bewerten.
Ein solcher staatlich behüteter Marktplatz der Meinungen ist umso notwendiger, als nur unser Staat unsere Vorstellungen vom Schutz unserer Daten gewährleisten kann. Bei den globalen Konzernen der amerikanischen Westküste sind wir da schlecht aufgehoben. Sie haben an uns als Datenlieferanten ein rein kommerzielles Interesse. Parallel zu unserer Nutzung werden wir dauerhaft mit auf unser Persönlichkeitsprofil kalibrierter Werbung berieselt. Wenn wir noch Glück haben, ist diese wiederum rein kommerziell.
Es sind aber Heerscharen von Manipulateuren unseres Denkens unterwegs. Sie sitzen in „Firmen“ in Rußland, den USA und andernorts und wissen dank ihrer Rechenkapazität über Millionen Menschen alles, vom Geschlecht vielleicht bis zur Kragenweite und der Lieblingssportart, eben was wir an Daten über die offenen sozialen Medien selbst so von uns preisgeben. Auf uns individuell zugeschnitten plazieren sie dann Emails oder politische Werbung, wie es in US-Wahlkämpfen bereits optimiert und perfektioniert geschieht. Wer sich solchen Datenkraken freiwillig ausliefert, mag das auch künftig riskieren. Er sollte aber die Wahl haben, auf einen gesetzlich zur Neutralität und Datensicherheit verpflichteten inländischen Anbieter auszuweichen.
Von der Meinungsplattform geschubst
Demokratietheoretisch ist die Forderung nach freier Teilhabe an den globalen sozialen Medien zwingend. Nicht nur ist eine demokratische Meinungsbildung unmöglich, wenn ein Teil der Akteure davon ausgeschlossen wird, seine Ansichten dort zu publizieren, wo alle Welt sie auch potentiell liest, und das ist heutzutage nicht der Leserbriefteil im Stormarner Kreisblatt. Es ist auch unmöglich, wenn emotionale Grundhaltungen von Staats wegen oder durch Facebook-Algorithmen als „Haßreden“ wegzensiert werden, zum Beispiel wenn jemand nach einem islamischen Anschlag seinen Abscheu gegen den Islam ausdrückt. Wenn im demokratischen Staats-Boot alle nach Kräften rudern müssen, aber einem Teil der Ruderer der Mund zugebunden wird und sie den Kurs nicht mitbestimmen dürfen, ist es eben kein demokratisches Boot mehr.
Aber auch der Anspruch des Individuums auf demokratische Teilhabe liefe ins Leere. Demokratische Prämissen besagen nach heutiger Lesart, der Staat müsse sicherstellen, daß alle sozialen Rollen faktisch und nicht nur formal allen Individuen zugänglich sind. Aus ihnen folgt, die Gesellschaft sei ihnen zu bestimmten Leistungen verpflichtet, ohne die ihnen freie Selbstbestimmung nicht möglich sei. Der Staat darf darum den Zugang zu den sozialen Medien und die unzensierte Teilhabe an freier Meinungsäußerung nicht nur nicht selbst durch Gesetze durch Durchsetzung seiner Weltanschauung im Netz beschränken. Er muß selbst aktiv jedem Bürger die Voraussetzung dafür schaffen, ohne Furcht vor Sanktionen und Sperren zu meinen und ins Netz zu stellen, was immer er mag.
Heute bestehen diese Voraussetzungen für jede Meinung, die mit den ideologischen Vorgaben unserer Regierungsparteien einverstanden sind und die nicht mit Google- oder Facebook-Algorithmen kollidiert. Beides sind durch ideologischen Konformitätszwang gesetzte Schranken. Unsere Verfassung wollte die Menschen von staatlicher Bevormundung befreien, aber ohne einen weltanschaulch neutralen Staat fielen sie unter die Herrschaft der Gesellschaft. Hier herrscht nicht das fürsorgende Prinzip, jeden teilhaben zu lassen, sondern das liberale Prinzip, jeden Akteur frei walten zu lassen. Daraus ergebe sich wie von unsichtbarer Hand das Beste für alle.
Tatsächlich führt das staatliche unbegrenzte Walten purer Marktmacht dazu, daß unsere Äußerungsfreiheit wenigen Medien-Monopolisten hilflos ausgeliefert ist. Nur in den großen sozialen Medien gewinnt eine Stimme aber Reichweite. Ohne sie dürfen wir zwar schreien – aber es hört uns niemand. „Die Plattformen der international agierenden Medienkonzerne sind Instrumente und sogar Akteure des Spieles, das darauf hinausläuft, die Nationalstaaten einem Globalregime zu unterstellen, wobei der Beutewert der europäisch geprägten Staaten besonders groß ist. Der Generalangriff auf die politischen und kulturellen Grundlagen der europäischen Zivilisation spült eine geistige Unterwelt, ein neues Barbaren- und Gangstertum an die Oberfläche, dem ein paar suggestiv aufgeladene Begriffe genügen – Diskriminierung, Rassismus, Islam- und Homophobie, Verschwörungstheorie oder einfach Haß –, um eine niederträchtige Herrschaft auszuüben.“[26]
Gesetze gegen politische Ausgrenzung
Wir besitzen bereits ein wunderbares Antidiskriminierungsgesetz. § 1 beginnt mit den Worten: „Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“
Benachteiligungen sind unzulässig, beispielsweise in Bezug auf „den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“ (§ 1 Abs.I Ziff.8 AGG). Politisch darf aber fröhlich weiter diskriminiert werden. Das AGG muß präzisiert werden, daß zur verbotenen weltanschaulichen Diskriminierung auch die politische gehört. Und die „Versorgung mit Dienstleistungen“ muß ausdrücklich auf die Versorgung mit aller Art von Telekommunikationsdienstleistungen erstreckt werden, also zum Beispiel auf die von Meinungsplattformen im Internet für ihre Nutzer erbrachten technischen Dienstleistungen.
Die sozialpolitische Diskussion tendiert seit Jahren dahin, neben Grundrechten auf Abwehr staatlicher Übergriffe auch Grundrechte auf Teilhabe am Minimum dessen zuzuerkennen, was jeder benötigt, um sich im sozialen Raum erfolgreich bewegen zu können. So spricht das BVerfG von einem aus der Berufsfreiheit folgenden Teilhaberecht bei der Wahl einer staatlichen Ausbildungsstätte.[27] Nun ist die Freiheit, seine Meinung nicht nur sagen zu dürfen, wenn niemand zuhört, sondern sie tatsächlich auch jemanden hören zu lassen, nicht nur eine huldvolle Gnade unseres Staates an seine Untertanen.
Die Meinungsfreiheit ist viel mehr: eine Funktionsvoraussetzung der Demokratie. Diese beruht auf der Idee einer fortwährenden Diskussionsprozesses zwischen mündigen Bürgern. Das BVerfG spricht von der „politischen Meinungsfreiheit, ohne Frage einem der vornehmsten Rechtsgüter jeder freiheitlichen Demokratie. […] Denn es ist eine der Grundanschauungen der freiheitlichen Demokratie, daß nur die ständige geistige Auseinandersetzung zwischen den einander begegnenden sozialen Kräften und Interessen, den politischen Ideen und damit auch den sie vertretenden politischen Parteien der richtige Weg zur Bildung des Staatswillens ist – nicht in dem Sinne, daß er immer objektiv richtige Ergebnisse liefere, denn dieser Weg ist a process of trial and error (I. B. Talmon), aber doch so, daß er durch die ständige gegenseitige Kontrolle und Kritik die beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie als Resultante und Ausgleich zwischen den im Staat wirksamen politischen Kräften gibt.“[28]
Das entsprach damals idealtypisch der Vorstellungswelt des klassischen Liberalismus: Man trifft sich und debattiert, bis eine für alle tragbare „relativ richtige“ Lösung gefunden wird. Heute treffen sich aber keine Vertreter verschiedener politischer Lager mehr, um durch Diskurs eine Lösung zu finden, mit der alle gut leben können. Seit das Bundesverfassungsgericht 1956 die „geistige Auseinandersetzung“ hervorhob, findet sie zwischen den Lagern immer weniger statt. Diese igeln sich ein, erstarren in Dogmatismus und nehmen sich wechselseitig immer weniger zur Kenntnis.
Die Debatten haben sich in Deutschland vielfach und weitgehend digitalisiert und ins Internet verlagert. Die politisierenden Stammtische vergreisen und verwaisen. Unzählige Meinungsforen, Blogs und soziale Medien spielen heute dieselbe Rolle wie die Agora im alten Athen: Hier werden Meinungen ausgetauscht und Auseinandersetzungen geführt, wenn überhaupt. Jemandem hier die Teilhabe zu verweigern wäre gleichbedeutend mit einem Platzverweis eines Atheners von der Agora und dem zynischen Hinweis, er könne ja in seine Hütte gehen und seinen Ziegen das erzählen.
Eine Demokratie muß unbedingt ihre eigenen Funktionsbedingungen garantieren. Damit ist eine privatrechtliche Lage unvereinbar, die einem Chef erlaubt, dem Arbeitnehmer zu kündigen, etwa weil er diesen auf einer gewissen Demonstration gesehen hat oder weil dieser im Internet eine polarisierende Kritik geübt hatte. Gegenwärtig stellt der demokratische Staat sich aber taub, wenn starke gesellschaftliche Kräfte Konformitätsdruck ausüben und jemanden aus einer Position mobben, weil er eine bestimmte Meinung vertritt. Es ist die ultraliberale „Neutralität“ eines Staates, der in Fragen sozialer Teilhabe sonst schon lange nicht mehr neutral ist.
Er schützt Mieter und viele andere gesellschaftlich Schwache vor den Starken. Nur die Freiheit schützt er nicht ausreichend, ohne Angst vor gesellschaftlichen Repressalien eine Meinung zu vertreten. Meinungsfreiheit ist aber ein „Kommunikationsgrundrecht, bei dem sich die grundrechtliche Freiheit nur im Miteinander der Menschen entfalten kann.“[29]
Statt sie zu gewährleisten, erhöhen die Vertreter bestimmter Ideologien als Parlamentarier noch den Konformitätsdruck. Sie halten manche abweichenden Meinungen nicht für Meinungen, sondern für ein Verbrechen, und schaffen fortwährend Gesetze zum Schutz ihrer eigenen und zur Unterdrückung anderer Ideologien und Ansichten. In der Grauzone des politischen Strafrechts weiß mancher vorher nie, ob eine Meinung noch straffrei geäußert werden darf oder ob sie schon verboten ist. So schweigt er lieber und geht in die innere Emigration.
Wir sollen werden wie Schafe
Es gab schon immer mehr oder weniger starken sozialen Konformitätsdruck. Jede menschliche Gemeinschaft lebt davon, daß ihre Mitglieder die Spielregeln einhalten, die für ein erfolgreiches Zusammenleben nötig sind. In archaischen Gruppen sog man diese quasi mit der Muttermilch ein und lernte früh, welchen Göttern man zu opfern hatte und was als tabu galt.
Je größer und komplexer eine Gesellschaft wird, desto größere Anstrengungen muß sie unternehmen, innere Konflikte zu vermeiden und nicht auseinanderzubrechen. Wo ethnisch homogene Gemeinschaften zu heterogenen Großreichen wurden, bedurfte es immer eines gewissen Maßes an ideologischer Vereinheitlichung, um diese zusammenzuhalten.
Je größer ein Reich, desto mehr tendiert es zu einer universalistischen Ideologie. Kein Staat ist von Dauer, dessen Bürger sich gegenseitig als Ungläubige oder Unmenschen hassen. Eine Ideologie, an die alle glauben, mag sinnhaft oder unsinnig sein; jedenfalls schafft sie Gemeinsamkeit und verhindert den Bürgerkrieg.
Heute leben wir in einer Epoche nie dagewesener sozialer Komplexität bei weitgehend geöffneten Grenzen. Salopp gesagt fliegt uns unser Laden bereits beinahe täglich um die Ohren, eben noch steuerbar, aber manchmal nur durch Hundertschaften von Polizei. Die Gesellschaft zerfällt in Fragmente und Echokammern, die sich nichts mehr zu sagen haben. Der innere Frieden ist oft nur mühsam aufrechtzuerhalten. Es ist kein Zufall, daß der staatlich-mediale, aber auch der ideologische Druck bestimmter gesellschaftlicher Einflußgruppen so massiv gewachsen ist wie seit 1945 nicht mehr.
Die Gesellschaft hat den liberalen Nachtwächterstaat von innen erobert. Der Marsch linksextremer Kräfte durch die Institutionen ist abgeschlossen. Der einstmals staatlich-neutrale Mediensektor ist fest in ihren Händen. Von den Kanzeln der Kirchen dröhnt das gleiche Lied wie überall. Niemand kann ihm entrinnen. Bekenntnisse werden abgefordert.
Wir unterliegen tagein, tagaus einer pausenlosen ideologischen Berieselung. Der Konformitätsdruck wird zum Überdruck. Uns wird vorgebetet, was wir nachbeten sollen. Wer als schwarzes Schäflein aus der Herde ausbricht, wird gemobbt, stigmatisiert, gekündigt, bespitzelt, sein Haus beschmiert, und er muß sich zu allem Überdruß in den sozialen Medien und dem Staatsfunk auch noch beschimpfen lassen. Mit der Internet-Plattform exif-recherche.org und ihren Zuträgern hat sich der Linksextremismus seinen eigenen, privaten Geheimdienst geschaffen. Unablässig umkreisen unsere Tugendwächter uns wie Hütehunde eine Herde blökender Schafe, die sich verängstigt wegducken.
Man schreibt uns vor, wen wir lieben müssen und wen wir nicht hassen sollen. Man treibt uns in eine bestimmte Richtung, unfähig und oft unwillig, uns auf uns selbst und auf unsere ureigenen Interessen zu besinnen. Wie die Kapelle auf der untergehenden Titanic spielt man uns zugleich immer in irgendeinem Fernsehprogramm etwas „Unterhaltendes“ vor: Panem et circenses.
Befriedende Konformität
Konformitätsdruck möchte alle Menschen das Gleiche denken lassen. Er zielt auf unser Denken, weil all unser soziales Handeln von unseren Gedanken gesteuert wird.
Wenn jeder völlig frei von jedem Druck denkt und tut, was immer er will, entwickelt sich eine stark ausdifferenzierte, eine buntscheckige Gesellschaft. Ihre heterogenen Kräfte wirken oft nicht zusammen, sondern gegeneinander. Das kann zu Konflikten bis hin zum Bürgerkrieg führen. Jede Seite verteidigt dann ihre „Wahrheit“ bis zum Äußersten. Wo keine neutrale Macht die Streithähne bändigt, herrscht ein anarchischer „Zustand der Unsicherheit, in dem man schließlich seines physischen Lebens nicht mehr sicher ist, weil die Berufung auf Recht und Wahrheit nicht etwa Frieden schafft, sondern den Krieg erst ganz erbittert und bösartig macht.“[30]
Die blutige Spur solcher Bürgerkriege zieht sich vom Hussitenkrieg und den 30jährigen Krieg über Afrika bis ins heutige Syrien. Wer die Menschheitsgeschichte kennt, wußte immer um die jederzeitige theoretische Möglichkeit, sich in Bürgerkriegen gegenseitig abzuschlachten. Wer sie nicht kennt, braucht sich nur im Fernsehen anzuschauen, was in den letzten Jahren in auseinanderbrechenden Staaten geschehen ist. Thomas Hobbes hatte das schon nach dem 30jährigen Krieg in die berühmten Worte gefaßt, der Mensch sei oft des Menschen Wolf. Ein Krieg aller gegen alle könnte zum Ende jeder Kultur, Zivilisation und aller gesellschaftlichen Verbindungen führen; „statt dessen ein tausendfaches Elend; Furcht, gemordet zu werden, stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben.“[31]
Aller Konformitätsdruck zielt darauf ab, Menschen zu gleichförmigem Handeln zu bewegen. Sie sollen alle denselben sozialen Spielregeln gehorchen. Wie ein großer, einheitlicher Organismus sollen die Menschen zusammenwirken und nicht gegeneinander kämpfen. Sie sollen von einer heterogenen Gesellschaft zu einer homogenen Einheit finden. Abweichungen sollen nur im sozialverträglichen Rahmen legitim sein, so Hobbes‘ Idee. Im Stillen denken möge jeder, was er will.
Das nackte Leben sei wichtiger als gegen den Meinungsstrom anzuschwimmen, dachten viele, nachdem sie die Greuel des 30jährigen Krieges erlebt hatten. Schon vor Hobbes (1651) schrieb der Jesuit Baltasar Gracián 1646, der kluge Mann könne denken wie nur die Wenigsten, rede aber wie die Meisten: „Gegen den Strom schwimmen zu wollen, vermag keineswegs den Irrtum zu zerstören, sehr wohl aber, in Gefahr zu bringen. Nur ein Sokrates konnte es unternehmen. Von Andrer Meinung abweichen, wird für Beleidigung gehalten; denn es ist ein Verdammen des fremden Urteils. […] Den Weisen wird man nicht an dem erkennen, was er auf dem Marktplatz redet: denn dort spricht er nicht mit seiner Stimme, sondern mit der der allgemeinen Torheit, so sehr auch sein Inneres sie verleugnen mag. […] Das Denken ist frei, ihm kann und darf keine Gewalt geschehn. Daher zieht der Kluge sich zurück in das Heiligtum seines Schweigens: und läßt er ja sich bisweilen aus; so ist es im engen Kreise Weniger und Verständiger.“[32] Nach Graciáns Rat richten sie die meisten Menschen bis heute in allen totalitären Staaten.
Es müssen nicht alle an dasselbe Dogma wirklich glauben. Genügt es nicht, wenn sich alle an dieselben Gesetze halten, deren oberstes der Verzicht auf Gewalt ist? Diese Idee vertrat Thomas Hobbes. Die haßerfüllten Puritaner seiner Zeit in England, die Katholiken, Lutherischen und wie sie alle hießen, konnte damals niemand zu einem gemeinsamen Glauben bekehren. Darum wollte Hobbes ihre Konfessionen gleichsam neutralisieren. Er forderte einen religiös neutralen Staat, der den Streithähnen einen gemeinsamen äußeren Kultus und Gesetzesgehorsam aufzwang. Glauben mochte dann jeder im Stillen, was immer er wollte.
Dieses Konzept beherrschte 150 Jahre lang die Staatenwelt und führte zu mehr Geistesfreiheit, förderte die Aufklärung und ließ die mörderischen Folgen weltanschaulichen Hasses fast vergessen. Vom Kaiser und den Landesherren unterdrückt wurden nur seektiererische „Hetz und Schmähpamphlete, die den interkonfessionellen Frieden“ des „mühsam errungenen religionspolitischen Ausgleichs gefährden konnten.“[33] Dieses Verbot konnte nicht effizient gehandhabt werden: Notfalls ließ man eben in Holland drucken. Im Gefolge der französischen Revolution kehrte dann der Weltanschauungshaß wieder. Seitdem gilt das Wort Paul de Lagardes: „Wir leben mitten im Bürgerkrieg. … Er ist ein Kampf der Geister.“[34]
In der französischen Revolution tobte sich die Idee der Homogenisierung erbarmungslos aus. Tausende Adliger und Geistlicher wurden umgebracht. Es gab keinen neutralen Staat, der den „Terreur“ verhinderte. Der ideologische Konformitätsdruck der Revolutionäre stieg so weit, daß sie sich am Ende gegenseitig unter die Guillotine schickten. Die Revolution fraß ihre Kinder, als sie sonst nichts mehr zu tun hatte.
Um innere Konflikte, das Auseinanderbrechen der Gesellschaft und letztlich den Bürgerkrieg zu verhindern, konkurrierten zwei Modelle. Das Modell staatlicher Neutralisierungen wollte jedem den persönlichen Glauben lassen, ihn aber vor dem staatlichen Gesetz irrelevant machen. Es „säkularisierte“ die in religiösem Gewand auftretenden Konflikte. Nur mit einem weltanschaulich neutralen Staat kann das funktionieren, solange er die auf der Lauer liegenden ideologischen Konfliktparteien daran hindert, sich gegenseitig zu bekämpfen.
Das Gegenmodell dominiert Europa seit der französischen Revolution und die heutigen USA. Es verlangt auch allen Bürgern Gesetzesgehorsam und den inneren Frieden ab, beides Funktionsvoraussetzungen aller Staatlichkeit. Es erstreckt den gesellschaftlichen Konformitätsdruck aber weit über die formale Gesetzestreue hinaus und betrachtet die Bürger als mentale Knetmasse, deren Denken so weit modelliert werden kann, bis es sich einpaßt.
Nutzen und Mißbrauch der Konformität
Ohne jede Konformität kann keine soziale Gruppe bestehen. Je nach Größe und Komplexität einer Gruppe ist mehr oder weniger Konformität in mehr oder weniger Bereichen unabdingbar notwendig, um gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Wollen viele etwas Schweres an Land ziehen, dann müssen alle auf ein Kommando an einem Strang ziehen können. Je höher die Leistung ist, die sie ihrer Gemeinschaft abverlangen, desto stärker muß jeder sich einpassen und umso konformer müssen alle sich verhalten. Darum verlangt jede Gemeinschaft ihren Mitgliedern in Zeiten von Krieg und Not das höchste Opfer an individueller Freiheit ab. „Gemeinsam sind wir stark!“, aber nur, wenn wir tatsächlich gruppenkonform handeln.
In Friedenszeiten und wenn es allen gut geht, läßt die soziale Disziplin schnell nach. Darum ruft jede herrschende Macht gerne und gerade dann einen Notstand aus, wenn sie den Gehorsam ihrer Untertanen erzwingen und legitimieren will. Der soziale Sinn einer Gefahrenproklamation besteht immer darin, Konformität zu erzeugen und Herrschaftsansprüche zu begründen: „Alles hört auf mein Kommando!“ war schon immer die Lieblingsparole aller Herrscher, deren Machtanspruch angezweifelt wurde, denn „die Gefahr wächst!“
Früher eigneten sich als disziplinierende Gefahren besonders drohende Feinde, die über uns herfallen möchten. Das setzte immerhin noch ein gewisses Maß an Evidenz dieser Gefahr voraus. Säbelrasselnde Feinde lassen sich nicht beliebig erfinden. Subtiler geht man heutzutage vor. Gefahren, die niemand einfach nachprüfen kann und die keiner sieht, lassen sich notfalls erfinden. Wie den alten Teufel, den Gefährder des Seelenheils, kann man konstruierte Gefahren zwar nicht sehen, man kann ihre Existenz aber auch nicht widerlegen. Man kann sie nur glauben, und wer nicht glaubt, gilt als Leugner und schwarzes Schaf, das aus der sozialen Herde der Glaubensfrommen ausschert, mit Aluhut auf dem Kopf und drinnen vermutlich nicht ganz dicht: Gottesleugner, Holokaustleugner, Klimaleugner und Coronaleugner sind solche Leute, aber auch alle, die im Kampf gegen eine an die Wand gemalte Gefahr skeptisch bleiben und nicht einstimmen zum Beispiel in die Kampfrufe „gegen Rechts“.
Gesellschaftliche Konformität hat immer einen Januskopf: Ganz ohne sie läuft nichts. Öffnet man ihr alle Schleusen, dann reißt sie jeden auf Kosten seiner Individualität mit und kann nach außen ein Höchstmaß an Effizienz und Macht erzeugen. Dabei bleibt sie stets anfällig für ihren Mißbrauch durch Machthaber, die uns durch Feindbilder disziplinieren, die vor allem als soziale Konstrukte in den Köpfen lebendig sind, aber nicht real existieren müssen.
Darum ist der Erzfeind jeder Herrschaft keineswegs der einzelne Gesetzesbrecher, sondern der Gedankenverbrecher. Er glaubt nicht an die Legitimität der Herrschaft und verweigert sich der ideologischen Konformität. Selbst der Liberalismus wird dann dienstlich: Während er doch das Phänomen der Feindschaft in eine friedliche ökonomische Beziehung umwandeln möchte, erklärt er den Gegner seiner axiomatischen Grundlagen ganz ungeniert zum Verfassungsfeind. „In allen Staaten gibt es deshalb in irgendeiner Form“ einen „inneren Feind“.[35]
Dieser war sehr einfach zu bestimmen in Staaten wie dem alten Ägypten und anderen Reichen, die auf der Göttlichkeit ihres Herrschers gründeten. Christen wurden im alten Rom nicht verfolgt, weil sie dem Götterpantheon einen weiteren hinzufügten, sondern weil sie die Göttlichkeit des Kaisers bestritten. In ideologisch geschlossenen Systemen wie dem Sowjetmarxismus herrschte, wer die Macht hatte, zu bestimmen, wer als Klassenfeind galt und erschossen gehörte. In einer Demokratie ist es die jeweilige Mehrheit, die ihren innenpolitischen Konkurrenten für außerhalb der Verfassung stehend erklären und damit von der demokratischen Homogenität des Volkes ausschließen kann.[36] Diese politische Homogenität erfordert einen Konformismus der Bürger in Bezug auf die spezifisch demokratischen Grundregeln.
Die angeborene Gruppenkonformität
Wie der Biologe Mark W. Moffett nachgewiesen hat, konnte zwar eine Horde vorzeitlicher Menschen noch zusammenhalten, weil sich alle persönlich kannten. Bei größeren sozialen Gemeinschaften ist das nicht mehr möglich. Hier werden gemeinsame Merkmale zum Signal: „Ich gehöre dazu!“ Das können gleichförmige Stammes-Bemalungen der Gesichter sein, gleiche Sprache oder beliebige andere kulturelle „Marker“ bis hin zur Nationalflagge. „Menschen folgen einer Fahne“, zitiert Moffett den Ethnologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt, „wie eine im Experiment geprägte junge Ente einem Ball.“[37]
Hier liegt der tiefere Sinn der Pflicht US-amerikanischer Schüler, vor dem Unterricht gemeinsam vor ihrer Fahne stehend mit der Hand auf dem Herzen die Nationalhymne zu singen. Die oft großen ethnischen und sozialen Unterschiede erfordern offenbar ein besonders hohes Maß staatlicher Bemühung, sie zu homogenisieren und auf etwas Gemeinschaftliches einzuschwören.
Sobald die Unterschiede zwischen sozialen Gruppen unüberbrückbar werden, bricht die Kommunikation zwischen ihnen zusammen.[38] Sie nehmen sich nicht mehr als zusammengehörend wahr. „Ein Überblick über Bürgerkriege zeigt etwas Beunruhigendes: Eine veränderte Reaktion der Menschen auf andere Mitglieder ihrer eigenen Gesellschaft kann im Handumdrehen den ganzen Weg zu empörender Entmenschlichung und regelrechter Brutalität zurücklegen.“[39]
Darum ist jede soziale Gruppierung auf ein bestimmtes Maß an Konformität angewiesen. Diese Regel gilt nicht nur, wo diese sich mit dem Staatsvolk eines Staates deckt. Es gibt auch innerhalb eines Staates und seiner Gesellschaft viele soziale Gemeinschaften, die sich in irgendeiner Weise selbst definieren und zu ihrem Erhalt auf konformes Verhalten angewiesen sind. Sie erkennen sich ebenso an kulturellen Markern wie die Angehörigen eines Volkes oder Staates; nur an anderen: Sie tragen ähnliche Kluft, gleiche Haartracht, üben gleiche Grußformen und dergleichen. Damit bilden sie eine für den inneren Frieden noch ungefährliche gesellschaftliche Vielfalt ab. Gefährlich werden sie aber für den Bestand des Ganzen, wenn sie eine Ideologie verinnerlichen, die in allen anderen Bürgern zu bekämpfende Feinde sieht.
So hatten sich 1618 im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation konfessionell geprägte Kirchen und Fürstenbündnisse spinnefeind gegenübergestanden. Die verbindende Staatsidee dieses Reiches, das universale Kaisertum der gesamten Christenheit zu sein, war erloschen. In den ideellen Ruinen des Reichsgedankens schufen neue Mächte bis 1648 reale Ruinen. Sie vermochten es, weil das alte Reich den früheren Konformitätsdruck nicht mehr aufrechterhalten konnte: Das protestantische Deutschland verweigerte sich dem Machtanspruch, dem Kaiser und dem Papst zu gehorchen. Folgerichtig existierte das Reich nach diesem Krieg dann von 1648 bis 1806 gerade noch dem kaiserlichen Titel nach und bestand praktisch oft nur noch auf dem Papier fort.
Gesiegt hatten 1648 machtpolitisch die Feinde des Reichs außerhalb seiner Grenzen, im Innern aber die konfessionellen Bürgerkriegsparteien. Jede war durch den Friedensschluß in ihrem Bestand rechtlich abgesichert. Zugleich zog jeder Landesfürst die konfessionellen Zügel für seine Untertanen fest an. Cuius regio, eius religio: Unter jeder Krone durfte es nur eine Konfession geben. Alle Bürger wurden zur Konformität gezwungen. Wem das nicht gefiel, dem wurde die „Gnade der Auswanderung“ gewährt.
Hochkonjunktur in Umbruchzeiten
Die Konjunkturen des ideologischen Konformismus ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Als der ägyptische Pharao Amenophis IV. im 14. Jahrhundert v. Chr. einen neuen Sonnenkult mit nur einem anzubetenden Gott einführte und sich fortan Echnaton nannte, mußten seine Untertanen auch diesen Kultus annehmen. Gegen schweren Widerstand mit der Priesterschaft verfolgte er das Andenken an die Götter Amun und Mut und deren Verehrung. Er ersetzt sie durch den Glauben an die sichtbare Sonnenscheibe Aton und erhob sich selbst in den Rang eines Gottes.
Je multikultureller ein Staat ist, desto größer ist der erforderliche Konformitätsdruck, ihn zusammenzuhalten. Um Großreiche vor dem multikulturellen Zerfall zu schützen, übten immer wieder gerade die Herrscher über verschiedene Völkerschaften einen hohen Konformitätsdruck aus. In der Umbruchzeit von der Antike zum Mittelalter unterdrückte der in Konstantinopel residierende Kaiser Justinian (482 bis 565) die verbliebenen Nichtchristen seines Reiches. Er befahl die Verfolgung nichtchristlicher Grammatiker, Rhetoren, Ärzte und Juristen und ließ 562 „heidnische“ Bücher öffentlich verbrennen. Die Kindstaufe wurde zwangseingeführt, ihre Nichtbeachtung mit dem Verlust von Eigentum und Bürgerrecht bestraft, das Festhalten am „hellenischen“ Glauben und der Abfall vom christlichen mit der Todesstrafe. Zugleich beanspruchte er, seine Herrschaft direkt von Gott erhalten zu haben.
Unübersehbar verband sich der Zwang zu einem bestimmten Glauben und Kultus immer mit der Legitimierung von Herrschaft. Je stärker die zentrifugalen Mächte, desto gröber die Methoden, sie durch Konformität in Glauben und Kultus zu bändigen. Karl der Große stellte die fromme Botschaft Jesu von der Nächstenliebe geradezu auf den Kopf, als er die Sachsen mit Mord und Totschlag dazu zwang, Christen zu werden und ihn zugleich als von dem christlichen Gott legitimierten Alleinherrscher anzuerkennen. Historisch wurde immer dann ein extremer Konformitätsdruck aufgewandt, wenn es galt, ein Reich in sich zu festigen. Das schloß stets gleichförmige Bekenntnisse mit ein, die sich auf jenseitige Mächte und damit auf ihren irdischen höchsten bescheidenen „Diener“ bezogen.
Bis Ende des 18. Jahrhunderts glaubte man allgemein an eine Gliederung der Gesellschaft in Stände, die sich voneinander substanziell unterschieden: Auch ein Bauer oder Handwerker erkannte durchaus an, daß Adlige höherstehende Menschen wären als er selbst. In einfach strukturierten, zumal ländlichen Gegenden und Gesellschaften war darum kein allgemeiner Konformitätsdruck erforderlich, diese Ständeherrschaft aufrechtzuerhalten.
Konformitätsdruck ist immer ein besonderes Merkmal sozialer Umbrüche. Die Geschwindigkeit solcher Veränderungen stieg seit 1789 ständig. In manchen Generationen erlebten Einzelne mehrere Systemwechsel mit. Jedes neue gesellschaftliche System ist zu seinem Selbsterhalt darauf angewiesen, daß die Grundlagen seiner Legitimität geglaubt werden, als seien sie metaphysische Wahrheiten. Ein solcher Glaube, welcher auch immer jeweils, durchdringt aber die Identität einer Person oft so tief, daß sie ihr Lebtag nicht davon lassen kann. Sie wird einem neuen System niemals völlig konform gegenüberstehen.
In meiner Kindheit Ende der 1950er Jahre lebte in meiner Familie eine alte Dame, 1890 geboren. Sie erzählte mir als Kind immer wieder begeistert und gerührt, sie habe, als junge Frau in Berlin „in Stellung“, die ganze kaiserliche Familie auf einem Spaziergang gesehen. Sie blieb bis zu ihrem Tode 1985 kaisertreu, ungeachtet aller Systemwechsel, die sie mitmachte: den Sturz des Kaiserreichs, die Machtergreifung Hitlers, die Machtergreifung der Kommunisten in der DDR und nach der Flucht nach Westen den demokratischen Parlamentarismus. Das hat sie alles nicht mehr im Innersten berührt. Sie blieb ihrem Kaiser in ihrem Herzen unverbrüchlich treu.
An mangelnder Konformität ihrer Bürger ist die Weimarer Republik 1933 gescheitert. Seit der Reichsgründung 1871 hatte Deutschland ein Ausmaß gesellschaftlicher Komplexität entwickelt, das die Republik nicht mit einer alle Bürger vereinenden Staatsideologie zu neutralisieren vermochte. Die Bundesrepublik versäumte das 1949 nicht und verkündete, kraft Gesetzes gelte ab jetzt eine als „vorstaatlich“ und universell proklamierte „Werteordnung“ naturrechtlicher Glaubensartikel. Sie zu glauben verpflichtet uns das Grundgesetz allerdings nicht. Nur an die auf ihr beruhenden Gesetze müssen wir uns halten.
Die jeweils erforderliche Neukonformisierung zeigte sich nach Systemwechseln als erstes im Aufziehen anderer Fahnen. Alte Eide wurden für ungültig erklärt und neue gefordert. Jede Staatsverfassung beruht auf einem umfassenden, möglichst in sich widerspruchslosen Rechtssystem, das nun zum Tragen kommt. Es besagt, was künftig legal ist. Es kann sich nur auf Dauer behaupten, wenn seine Bürger es auch für legitim halten. Legalität ist die Übereinstimmung mit dem jeweils geltenden Recht, Legitimität aber die Übereinstimmung dieses Rechts mit dem vorherrschenden Glauben der Menschen, in welcher Weise soziales Leben sich gestalten sollte.
Dieser Glaube orientiert sich immer an irgendwelchen „höheren“, also metaphysischen Wertvorstellungen: der rechtmäßigen Herrschaft des Monarchen von Gottes Gnaden, des Führers durch einheitlichen Volkswillen, des Parlaments kraft durch freie Wahlen vermittelten Volkswillen oder des Politbüros kraft objektiver Gesetzlichkeiten der Geschichte. In anderen Kulturen übernehmen diese Funktion zum Beispiel die Allmacht von Göttern wie Allah oder in unserem Mittelalter Gott, Jesus und ihr heiliges Geist.
Jede dieser möglichen Legitimitätsquellen beruht auf einem in sich mehr oder weniger geschlossenen Gedankengebäude, einer Ideologie, zu der im funktionalen Sinne die Religionen genauso gehören wie weltliche Glaubenslehren. Es ist eine Überlebensfrage jedes politischen Systems, die Ideologie zu festigen, auf der es beruht. Diese Aufgabe fällt dem Konformitätsdruck zu, der auf den Bürgern lastet.
In einer weltanschaulich weitgehend homogenen Gesellschaft muß er nicht groß sein. Hier gilt es nur die herrschenden Vorstellungen aufrechtzuerhalten. In islamischen „Gottesstaaten“ muß die Mehrheit der Menschen nicht erst „bekehrt“ werden. Es genügt, den einen oder anderen Ungläubigen zu bestrafen. Sehr viel mühsamer aber ist es, ein ganzes Volk ideologisch auf den gewünschten Kurs zu bringen. Das kann ein neuer Kurs einer neuen Staatsführung sein oder aber die Parteiräson einer an die Macht gelangten ideologischen Minderheit. Wir haben in Deutschland erlebt, wie das nach 1933 weitgehend gelang. In der DDR war es nie vollständig gelungen, was sie 1989 zu Fall brachte.
Sichtbare und unsichtbare Konformität
Ein staatlicher Konformitätsdruck ist meistens unübersehbar. Das gilt vor allem für seine archaischen Formen. Einer Legende nach soll Gereon ein römischer Legionär gewesen sein, dessen Thebäische Legion wegen ihres christlichen Glaubens im Jahre 304 „gezehntet“ worden sein soll, indem also jeder Zehnte einen Kopf kürzer gemacht wurde. In moslemischen Gottesstaaten gibt es solche brachialen Methoden heute noch.
Konformitätsdruck geht aber nicht immer und nicht nur von staatlicher Seite aus. Je schwächer ein Staat auftritt, desto mehr kann der soziale Zwang zu regelkonformem Verhalten von der Gesellschaft selbst ausgehen. In Deutschland ist heute beides zugleich der Fall: Der Staat mit seinen hoheitlichen Mitteln und die ihn regierenden gesellschaftlichen Kräfte ziehen an einem Strang.
Je länger wir in einer einigermaßen homogen denkenden Gesellschaft leben, desto eher nehmen wir ihre Wertvorstellungen als die allgemeinmenschlich normalen wahr. Damit werden sie für uns unsichtbar. Wir halten sie dann für selbstverständlich, ohne weiter über sie nachzudenken.
Auf ihre Verletzung reagieren Menschen oft mit sozialer Empörung. So empörte sich 2019 die Zeitung mit den vier Großbuchstaben, daß wir Sozialhilfe an polygame Familien zahlen und dadurch die moslemische Mehrehe indirekt anerkennen. Es liegt in der Natur kultureller Normen, daß wir sie tief verinnerlichen und ihre Unantastbarkeit erbittert verteidigen. Dabei bleibt die nüchterne Rationalität oft hinter dem emotionalen Empörungsaufwand zurück. Unsere Empörung kann auf den Regelverletzer einen erheblichen sozialen Druck ausüben und soll ihn zur Konformität zwingen.
Im Internet und den sozialen Medien kommt es dann zu Phänomenen wie dem im Englischen sogenannten „Shitstorm“. Selbsternannte Wächter regelkonformen Verhaltens rotten sich zum „Mobbing“ gegen den frechen Tabubrecher zusammen: Was der da gesagt habe, sei schließlich keine Meinung, es sei ein Verbrechen! Merkmal von „Meinungsverbrechen“ aber ist es, die Unantastbarkeit „höherer“ Werte und Normen mißachtet zu haben. Als höher gelten sie, weil sie in einer transzendenten Vorstellungswelt wurzeln, im Jenseits metaphysischer Glaubensgewißheiten. Das Internet läßt „neue Formen des Aktivismus und Mobbings zu, verkleidet als sozialer Aktivismus, der den Tenor der Zeit widerspiegelt.“ Dieser Zeitgeist ist ein eifersüchtiger Gott und duldet keine anderen neben sich. In seinem Namen wird der höchste Konformitätsdruck ausgeübt. „Der Drang, Leute zu finden, denen man vorwerfen kann, das Falsche zu denken, funktioniert allein schon deshalb, weil der Täter belohnt wird. Die Betreiber der sozialen Medien haben nichts dagegen einzuwenden, weil es zu ihrem Geschäftsmodell gehört.“[40]
Der säkularisierte Staat der Neuzeit hatte sich aus dem Minenfeld der metaphysischen Glaubenskriege zurückgezogen. Idealtypisch formulierte Friedrich der Große, in seinem Staat möge jeder nach seiner Facon selig werden. Die Gesellschaft durfte das unter sich ausmachen. Eine Trennung von Staat und Gesellschaft gibt es in dieser Reinform im heutigen Deutschland nicht. Es beherrschen je nach Wahlerfolg sich abwechselnde ideologische Kräfte alle Hebel des Staats. Er vermag bei „metaphysischen“ Streitigkeiten darum nicht mehr neutralisierend zu wirken. Die jeweils an der Macht befindliche Parteiung stülpt dem Staat ihren Glauben über und bekämpft mit seinen Mitteln ihre ideologische Konkurrenz. Ein Werkzeug des parteipolitischen Konkurrenzschutzes ist der Verfassungsschutz. Er soll dafür sorgen, daß der Staat in der Verfassung bleibt, die der gewünschten ideologischen Lesart entspricht.
Bis etwa 1969 bedeutet dies den Kampf gegen den Linksradikalismus, zur Zeit den „Kampf gegen Rechts“. Während dem Staat jede Lenkung des Volkswillens verboten ist, weil sie das Demokratieprinzip auf den Kopf stellen würde, lassen seine regierenden Parteien über 100 Millionen € jährlich an ausgewählte Nichtregierungsorganisationen fließen, die für sie die ideologische Vorarbeit leisten. Das ist klar verfassungswidrig.
Wo Staat und Gesellschaft eins sind, kann sich niemand der Einheit von Privatem und Öffentlichem und damit dem ideologischen Konformitätsdruck entziehen. Unmoral wird dann strafbar. So regelt § 46 des Strafgesetzbuchs seit 2015: „Bei der Zumessung“ des Strafmaßes „wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende, die Gesinnung, die aus der Tat spricht“ usw.
Im mittelalterlichen christlich-universalistischen Feudalismus führte das Verschmelzen von Thron und Altar dazu, daß jeder Verstoß gegen die christlichen Dogmen selbst dann auf dem Scheiterhaufen enden konnte, wenn der Ketzer im übrigen gesetzestreu war. Ketzer, wußte 1646 Nicolas de Vernuls, darf man im Staate auch dann nicht dulden, wenn sie friedlich seien, denn Menschen wie Ketzer könnten gar nicht friedlich sein.[41] Später setzte sich die alleinige Räson des Staates mit ihrer Trennung von der privaten Moral durch und erlaubte ein ungekanntes Maß an Glaubens- und Geistesfreiheit. Im 20.Jahrhundert hat die Gesellschaft den Staat zurückerobert. Gewechselt haben gegenüber dem Mittelalter nur die Ideologeme. Jetzt gab es wieder den Gedankenverbrecher[42]. Diese Rolle spielt zur Zeit der „ewige Nazi“.
Gesellschaftliche Zensur ist strenger als die staatliche und arbeitet mit Tabus. Diese erzeugen den gewünschten Zwang zur ideologischen Konformität. „Die Probe auf die Pressefreiheit ist, ob geistige Traditionen und von nennenswerten Teilen der Bevölkerung getragene Positionen an der Öffentlichkeit teilhaben können oder nicht. Ist das nicht der Fall, kann man sicher sein, daß Zensur nicht nur ausgeübt wird, sondern sich bereits erfolgreich durchgesetzt hat.“[43]
Moralischer Terror und sozialer Boykott
Festigkeit im Glauben wurde in christlicher Zeit notfalls mit den Methoden der kirchlichen Inquisition erzwungen. Sie ging erbarmungslos gegen Häretiker vor und erzwang ein Höchstmaß an Konformität. Die Stelle inquisitorischer Instrumente wie der kirchlichen Disziplin und der Exkommunikation nehmen seit hundert Jahren der moralische Terror und der soziale Boykott ein.[44] Sie sind die gegebenen Methoden des Konformitätsdruckes, wenn er von gesellschaftlichen Kräften ausgeübt wird.
Jede Gesellschaft, jede Organisation und damit jedes soziale System besteht nicht nur aus formellen Gesetzen, sondern auch aus ihnen zugrundeliegenden Normen, Regeln, Vorgaben und Hierarchien, die die Systemstrukturen konstituieren und regulieren. Wer sie mißachtet, wird „systematisch“ bestraft. In extremster Form liegt die Bestrafung in der Ausgrenzung, ohne freilich dabei das System verlassen zu haben, geschweige denn zu können. Der Bestrafte befindet sich dann innerhalb des Systems in einer unterpriviligierten Position. Die soziale Ausgrenzung hängt wie ein Damoklesschwert über jedem, der von seiner Meinungsfreiheit in der falschen Weise Gebrauch macht.
Ein zunehmend zum totalitären Gesinnungsdruck übergehender Rigorismus beurteilt den Menschen nicht mehr danach, was er tut, sondern danach, was er denkt, sagt oder schreibt.[45] Ideologische Strömungen haben sich parteipolitisch formiert und ihre Vertreter in alle staatlichen Machtpositionen gebracht. Die Frage ist sinnlos geworden, ob ein und dieselbe Person gerade in hoheitlicher Position oder einer parteipolitischen Funktion auftritt, also zum Beispiel als Verfassungsschutzpräsident oder SPD-Genosse oder als staatlicher Sektenbeauftragter oder als CSU-Mann. Er ist oft mehreres zugleich. „Der Eifer unserer Gesinnungs-, Weltanschauungs- und und Sektenbeauftragten, unserer Groß- und Kleininquisitoren und Wächter über ‚political correctness‘ ist zu einer ernsten Bedrohung unserer Freiheit geworden.“[46] Während die staatliche Gesetzesordnung oft noch so weitmaschig gehandhabt wird, daß kein Verhalten mehr verboten werden kann, versichert die Gesellschaft sich als Ersatzlösung der Gesinnung ihrer Bürger. Das Verhalten ist nur noch der formale Anknüpfungspunkt, um „verfassungsfreundliche oder -feindliche“ Gesinnung herauszufinden, auf die es ihm entscheidend ankommt.[47]
Ideologische Gleichschaltung
Die „neue Tendenz“, erkannte der Staatsrechtslehrer Martin Kriele schon 1994, geht zur „staatlichen Weltanschauungskontrolle …. Die aufgeklärte Weltanschauung … beansprucht jetzt, da sie mehrheitlich akzeptiert ist, den Alleinherrschaftsanspruch.“[48] Um ihn zu festigen und aufrechtzuerhalten, verstärkt sie ihren Konformitätsdruck immer mehr.
Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Konformitätsdruck und Meinungslenkung ein Unding. Deutschland ließ 1945 das staatliche Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda hinter sich, errichtete 1949 heilige Hallen der individuellen Meinungsfreiheit und fand sich 2020 sehr erstaunt in einem Tollhaus gesellschaftlicher Volksaufklärung und Propaganda wieder. Die Volksaufklärung öffnet uns jetzt die Augen, was wir als „Fake-News“ betrachten sollen, und die Propaganda sagt uns, was wir noch denken dürfen, wenn wir Gutmenschen bleiben wollen.
Das Grundgesetz ist ein Musterschüler des Liberalismus. Es stellt darum die Staatsfreiheit der Person mit ihren Grundrechten in den Mittelpunkt allen Verfassungsdenkens. Der tiefste Sinn des philosophischen Liberalismus besteht in der Absage an Ideologien und in dem festen Glauben, selbst keine zu sein. Doch das vielfach proklamierte Ende der Ideologien ist bloßer Bestandteil seines eigenen ideologischen Selbstverständnisses.[49] Tatsächlich ist die sogenannte Wertordnung des Grundgesetzes eine vollwertige Ideologie: ein in sich geschlossenes System metaphysischer Wertsetzungen.[50] In seinem Namen herrscht, wer über die Auslegung der Wertbegriffe letztgültig entscheidet.
Wer diese Auslegungsmacht erkämpft, vermag die Gesellschaft auf den gewünschten Kurs zu bringen. Darum zielen die relevanten ideologischen Gruppierungen mit dem ihnen jeweils möglichen Konformitätsdruck auf gesellschaftliche Vorherrschaft, um schließlich über Gesinnungsfreunde im Bundesverfassungsgericht den gesamten Staat in ihrem Sinne ideologisch zu steuern und möglichst alle konkurrierenden Kräfte gleichzuschalten.
Zwischen Konformitätslust und -druck
Offenbar haben viele Menschen ein unwiderstehtliches Verlangen danach, als Mitglied einer Personengruppe anerkannt zu werden und sich deshalb völlig in sie zu integrieren. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verspricht ihnen Geborgenheit und erzeugt das wohlige Kuschelgefühl: Ich werde anerkannt, und alle haben mich lieb.
Das Bedürfnis nach Anerkennung ist ein psychisches Grundbedürfnis. Wer möchte schon Außenseiter sein? Dazu wird man schnell, wenn man sich nicht anpaßt. Also geht man lieber konform mit den üblichen oder den zu erwartenden unhinterfragten Gewohnheiten, den in Gesprächen geäußerten Meinungen über Gott und die Welt und den vielen kleinen und großen kulturellen Details. Man paßt sich unwillkürlich an. Selbst ein eingefleischter Atheist wird als Gast einer Kommunionsfeier stiller, ein gläubiger Christ dagegen einsilbiger unter lauter Buddhisten.
Die Gruppe wiederum quittiert jeden Verstoß gegen ihren Comment mit Stirnrunzeln oder einem sozialen Platzverweis. Der Evolutionsbiologe und Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt warnte schon 1988 vor dem „Meutesyndrom“: „Man reagiert seine eigenen Aggressionen am Prügelknaben ab.“ Bereits „Schimpansen stürzen im Kollektiv über Gruppenmitglieder her, die sich von der Norm abweichend verhalten.“[51] Machen wir uns als Menschen nichts vor. Je nach Situation sind wir „noch immer“, wie Erich Kästner in einem Gedicht spöttelte, „die alten Affen“. Am 4. Oktober 2020 zogen 60 Vermummte lautstark durch Konstanz vor das Elternhaus eines 26jährigen, der Mitglied der Identitären Bewegung gewesen sein soll. Dieser war nicht zuhause.
Die Junge Freiheit berichtet, die „Randalierer hätten zahlreiche Eier und Farbbeutel mit rotem Lack gegen die gelbe Hausfassade geworfen und den Briefkasten mit Bauschaum gefüllt. Zudem sei auf den Eingangsbereich vor dem Haus der Schriftzug „Nazi“ gesprüht worden.“. Der „Stiefvater habe sich dem Antifa-Mob gestellt, der daraufhin auf ihn losgegangen sei. Die Angreifer hätten den 49 Jahre alten Mann gegen den Kopf geschlagen. Währenddessen soll einer der Vermummten versucht haben, ihm sein Mobiltelefon zu entreißen. Als sich immer mehr Anwohner einschalteten, seien die Linksextremen geflüchtet.“[52]
Eibl-Eibesfeldt kennzeichnet den Konformitätsdruck der Gruppe als „normierende Aggression“: „Die Bereitschaft des einzelnen, sich der Gruppennorm anzugleichen, ist sehr stark. In ihrem Bedürfnis, der Mehrheit zu folgen, handeln Menschen sogar wider alle Vernunft.“[53] Das entspricht bis heute dem anthropologischen Forschungsstand. „Individuen streben“ darum „danach, anderen Mitgliedern ihrer Gesellschaft so weit zu gleichen, daß sie deren Respekt gewinnen,“ und gleichzeitig möchten sie doch so „unterschiedlich sein, daß sie sich als etwas Besonderes fühlen.“[54] Aber niemand möchte Opfer des „Schwarze-Schaf-Effekts“ werden: „Menschen werden feindselig gegenüber jedem Mitglied, dessen empörende Verhaltensweisen wie ein Affront gegen ihre Vorstellungen von ihrer Gesellschaft wirken.“[55]
Bereits traditionelle „Kleinverbände, die einander gut kennen, nehmen Anstoß an deutlich abweichendem Aussehen oder Verhalten eines Gruppenmitgliedes. Individualität ist nur innerhalb einer bestimmten Schwankungsbreite erlaubt. Wer von ihr abweicht, wird Objekt kollektiver Aggressionen.“[56] Darum „gehört Zivilcourage dazu, die eigene Meinung gegen eine Mehrheit zu vertreten. Wir neigen dazu, mit dem Strom zu schwimmen, ohne erst kritisch zu prüfen, ob die Mehrheit wirklich vernünftig handel. Diese Bereitschaft zur Konformität wird dann gefährlich, wenn sie sich mit Aggression verbindet.“[57]
Die Konformitätsschmieden
Diese Aggression muß keine gewaltsame sein. Bekanntlich ziehen die derzeit dominanten linken Machteliten alle Register. Sie möchten unser mehrheitlich widerstrebendes Volk geistig so umkrempeln, daß es sich willig in die protosozialistische und multikulturelle Utopie fügt, die man ihm zugedacht hat. Von entscheidender Bedeutung sind darum die Kindergärten, die Schulen, die Universitäten und die Massenmedien als diejenigen Institutionen, in denen man Einstellungen mit dem geringsten Widerstand ändern kann. So zählt Eibl-Eibesfeldt die „erzieherische Aggression“ zur „Erhaltung der Gruppenidentität“ zu den probaten „Mechanismen, die Konformität erzwingen.“[58]
Kindergärten sind ein beliebter Spielplatz, auf dem sich ideologische Früherzieher so richtig austoben können. „Die Leiterin einer Hamburger Kita, wahrlich keine Expertin für Sprache und Literatur, bedauert, daß Jim Knopf immer noch gelesen wird, denn: »Jim Knopf reproduziert viele Klischees, zum angeblich typischen Wesen und Äußeren von Schwarzen.« […] Die Kita-Leiterin tritt für eine »rassismuskritische Frühbildung in den Kitas ein«, also für eine Indoktrination der Kinder in Orwellscher Manier. Und damit nichts schiefgeht, werden die Erzieherinnen vorindoktriniert: »Ich habe bald nach meinem Antritt dafür gesorgt, daß alle Kolleginnen und Kollegen ein Antirassismustraining machen.« Denn Weiße sind schon allein deshalb rassistisch, weil sie weiß sind und bedürfen einer Schulung, um den Rassismus in sich zu entdecken und tagtäglich gegen ihn anzugehen.“[59]
Viele unserer Schulen und Universitäten wurden bereits zu linken Kaderschmieden, an denen der Intoleranzpegel bereits jede Freiheit erstickt. Die Intoleranz gegenüber unkonformen Ansichten geht nicht ursprünglich von heutigen Studenten aus. Viele ihrer Lehrer wurden selbst schon als Schüler entsprechend indoktriniert und geben als Hochschullehrer nur weiter, was sie selbst gelernt haben. Gesellschaftstheoretiker haben es sich noch nie verkneifen können, ihre Wahrheit mit staatlichen Mitteln dem Volke einzulöffeln. Sie geben ihre Ansichten weiter wie einen Virus. Schon Johann Gottlieb Fichte forderte 1808 ein staatlich konformisierendes Erziehungswesen. Er wollte die Freiheit „so eng als immer möglich beschränkt“ und „alle Regungen unter eine einförmige Regel“ gebracht und „immerwährender Aufsicht“ unterstellt sehen.[60] Diese Aufsicht nennt man heute in den USA Cancel Culture und besagt, daß sofort abgekanzelt wird, wer sich nonkonform äußert.
Die Tendenz zu ideologischem Konformismus ist im heutigen Bildungswesen nicht zu verkennen. Ihr weltanschaulicher Hintergrund entspricht dem Zeitgeist und verspricht in den kommenden Jahren eine rotgrün konformierte politische Landschaft. Dabei findet die Indoktrinierung nicht auf so platte Weise statt wie in den 1950er Jahren, als in DDR-Schulen gelehrt wurde, wie sehr der große Genosse Stalin doch Kinder liebhat. Jugendliche Schüler lassen sich von Lehrern keine unmittelbare Parteipolitik aufschwätzen. Die Beeinflussung ist viel subtiler und findet auf der Ebene der Gefühle statt, die ihrerseits erst in weiteren Schritten politische Einstellungen erzeugen. „Ist es nicht unfair,“ hören die Kinder dann zum Beispiel, wenn Kaffeebohnenpflücker in Südamerika nicht so viel verdienen, „wie ihnen zusteht?“ Es ist kein Zufall, wenn in späteren Jahren junge Leute auf Demonstrationen gegen den freien Welthandel gehen oder überall „Diskriminierungen“ am Werke sehen. Die Grundlagen ihres Konformismus werden schon früh gelegt: Es sind Affekte und ideologische Ressentiments.
In meiner Schulzeit verstand man unter humanistischer Bildung die Erziehung zur Kritik- und Urteilsfähigkeit. Schüler lernten aus Lektüren einander widerstreitende Standpunkte kennen. Der Philosophie- und Geschichtsunterricht war oft vorbildlich. Wenn ich mich mit heutigen Oberstufenschülern unterhalte, ist deren einseitige oder ganz fehlende Bildung manchmal verblüffend. Ideologisch sind sie dagegen zuweilen voll auf Kurs:
Heutige Sozialtechniker finden im Schulwesen eine gewaltige Spielwiese vor, schon unseren Jüngsten ihre Betroffenheitsneurosen aufzupfropfen. Wie Pilze schießen die Mahnmale einer Moral als Geßlerhüte aus dem Boden, vor denen wir uns pflichtschuldigst zu verneigen haben. Dagegen wandte sich Schopenhauer unverändert aktuell: „Einige deutsche Philosophaster dieses feilen Zeitalters möchten den Staat verdrehn zu einer Moralitäts-, Erziehungs- und Erbauungs-Anstalt: wobei im Hintergrunde der jesuitische Zweck lauert, die persönliche Freiheit und individuelle Entwicklung des einzelnen aufzuheben, um ihn zum bloßen Rade einer Chinesischen Staats- und Religions-Maschine zu machen. … Dies aber ist der Weg, auf welchem man weiland zu Inquisitionen, Ketzerverbrennungen] und Religionskriegen gelangt ist.“[61]
Herrscher mit kriegerischen Ambitionen wußten immer, daß mit einem schlappen Volk kein Konflikt zu gewinnen ist. Sie setzten darum auf Wehrertüchtigung der Jugend. Diese begann nicht erst auf dem Exerzierplatz, sondern in den Köpfen. Wo die Jugend diszipliniert und gleichförmig ausgerichtet wird, hat dies gewöhnlich einen weitergehenden Zweck. Es soll niemand aus der Reihe tanzen. Der staatliche Machtapparat sollte niemanden mehr loslassen. Adolf Hitler faßte das am 2. Dezember 1938 in Reichenberg mit den Worten zusammen: „Und sie werden nicht mehr frei, ihr ganzes Leben.“ Vollständiger Konformismus ist die Quintessenz allen totalitären Denkens.
Die schwarzen Schafe
Weil die Konformitätslust so tief in uns verankert ist, können wir ihr nie vollständig entkommen. Wie leicht der vergebliche Versuch, den gesellschaftlichen Standards zu entrinnen, in neuer Konformität enden kann, hatte der Sänger Reinhard Mey 1974 in seinem Lied „Annabell“ bespöttelt: „Ab heute gehöre ich nicht mehr zur Norm, denn ich trage ja die Nonkonformisten-Uniform!“
Wer dem nicht erliegen will, muß sich inmitten der Meinungen der Konformisten freischwimmen. Er darf nicht der Bequemlichkeit nachgeben, kritiklos mitzulaufen, denn nur die toten Fische schwimmen mit dem Strom. Dieser wird oft von Dogmatikern gelenkt, die seine Wasser auf ihre Mühlen leiten. Die mittelalterlichen Scholastiker hatten behauptet, es lohne sich gar nicht, die Natur zu beobachten und daraus gar eine Wissenschaft zu machen. Um Gott zu erkennen, genüge reines Nachdenken. Dagegen wandte sich Roger Bacon (um 1220 bis 1293), ein Pionier der Empirie. Er nannte vier Hindernisse, die Natur zu erkennen: Respekt vor Autoritäten, Gewohnheit, Abhängigkeit von marktgängigen Meinungen der Menge und Unbelehrbarkeit unserer natürlichen Sinne.
Solch ein sich geistig seiner selbst bewußter Solitär war auch Friedrich Nietzsche. Er beschwor das ganze Pathos des unabhängigen Freidenkers und lachte über das „allgemeine grüne-Weide-Glück der Herde“ mit seiner „Sicherheit und Ungefährlichkeit“:
„In vielen Ländern des Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen; den dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhaß, Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen; voller Bosheit gegen die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren oder Geld, oder Ämtern, oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dankbar sogar gegen Not und wechselnde Krankheit, weil sie uns immer von irgend einer Regel und ihrem »Vorurteil« losmachte, dankbar gegen Gott, Teufel, Schaf und Wurm in uns, neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern für Unfaßbares, mit Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste, bereit zu jedem Handwerk, das Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagnis, Dank einem Überschusse von »freiem Willen«, mit Vorder- und Hinterseelen, denen keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuß zu Ende laufen dürfte, […] mitunter Nachteulen der Arbeit am hellen Tag; ja, wenn es not tut, selbst Vogelscheuchen – und heute tut es not: nämlich insofern wir die geborenen geschworenen eifersüchtigen Freunde der Einsamkeit sind, unsrer eignen tiefsten mitternächtlichsten mittäglichsten Einsamkeit: – eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister!“[62]
Friedrich Nietzsche
Praktisch lebbar ist eine solche Haltung nur in weitgehender Unabhängigkeit. Wer aber Rücksicht nehmen muß auf seinen Ruf bei seinem Arbeitgeber, wessen Kinder vom Wohlwollen gewisser Lehrer abhängen, wessen Frau nicht mag, wenn die Leute über die Familie tuscheln – der wird sich immer mehr oder weniger dem sozialen Umweltdruck anpassen. Er verzichtet dadurch oft auf seine geistige Autonomie: geht zu einer kirchlichen Hochzeit, auch wenn er die Kirche heimlich ablehnt, gibt bei Vorstellungsgesprächen die vermutlich gewünschten Antworten und heuchelt sich schließlich so lange erfolgreich durchs Leben, bis er seine hinter den sozial belohnten Ansichten verblassenden eigenen vergißt.
Je mehr Wert jemand auf seine geistige Autonomie legt, deste stärker muß er sich um gesellschaftliche Autarkie bemühen und sich sozial unangreifbar machen. Es ist nämlich nicht Merkmal eines schwachen Charakters, wie Petrus im neuen Testament seinen Gott zu verleugnen, sondern eine Frage der wirklichen sozialen Abhängigkeit: Der Sozialpsychologe Harald Welzer und der Philosoph Michael Pauen kommen gemeinsam zu dem Ergebnis: „Nicht Persönlichkeitsmerkmale seien also in erster Linie ausschlaggebend für selbstbestimmtes, widerständiges Handeln, sondern hindernde oder fördernde Bedingungen, wozu beispielsweise gehöre, keine Sanktionen erwarten zu müssen, sich in räumlicher oder emotionaler Distanz zu anders Urteilenden zu befinden oder um Unterstützung durch Gleichgesinnte zu wissen.“[63]
Nicht überraschend erkennen die beiden Autoren, daß Autonomie wesentlich von Privatheit abhängt. Diese sei aber „im Zuge der jüngsten Entwicklungen der Kommunikations- und Informationstechnologien massiv erodiert. Während Google, Facebook und Co. herrschsüchtig Daten sammelten und sozialer Austausch vornehmlich über das Internet stattfinde – also öffentlich –, verschwänden überwachungsfreie Rückzugsorte, und es verschärfe sich die Neigung zu sozialen »Rückkopplungseffekten«, also Massenhysterien.“ Deren hervorstechendstes Merkmal ist die unbedingte Konformität der alle Mitglieder dieser Masse beherrschenden Ängste.
Darum setzt alle geistige Freiheit eines voraus: unseren Mut!
Literaturverzeichnis
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[1] Söhnke Paulsen 1.10.2020.
[2] Josef Kraus 29.10.2020.
[3] Thorsten Meyer, Tichys Einblick 9.10.2020, Pieroth FAZ 23.9.2020 https://www.faz.net/aktuell/politik/standpunkt-bedrohte-meinungsfreiheit-16967910.html, abgerufen am 23.9.2020.
[4] Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 22.8.2019 -3 Sa 14/19-
[5] Boris T. Kaiser 6.10.2020.
[6] Arbeitsgericht Göttingen 2 Ca 159/17.
[7] Arbeitsgericht Dortmund 9 Ca 1484/19.
[8] Gunnar Kaiser und Milosz Matuschek, Appell für freie Debattenräume, https://idw-europe.org/#form.
[9] Tocqueville (1836) S.112 ff., 114.
[10] Müller-Franken, S.60.
[11] Müller-Franken, S.60. f., Hermann Lübbe FAZ 16.12.2011, S.9.
[12] BVerfG, Urteil vom 5.6.1973 – 1 BvR 536/72 –, BVerfGE 35, 202-245, Rn. 53.
[13] Müller-Franken, S.28.
[14] Söhnke Paulsen 1.10.2020.
[15] BVerfG, Urteil vom 19.7. 1966 –2 BvF 1/65–, BVerfGE 20, 56-119, Rdn. 115, ständige Rechtsprechung.
[16] BVerfG, Urteil vom 17.8.1956 –1 BvB 2/51–, BVerfGE 5, 85-393, Rdn. 208.
[17] BVerfG, Beschluß vom 27.8.2019 – 1 BvR 879/12 –
[18] Thorsten Meyer, Tichys Einblick 9.10.2020.
[19] Müller-Franke, S.62.
[20] Thorsten Meyer, Tichys Einblick 9.10.2020.
[21] BVerfG, Beschluß vom 27.8.2019 – 1 BvR 879/12 –, Rn. 7.
[22] Joel Sheperd 2017 (2001) S. 497.
[23] Murray, S.145.
[24] Murray, S.14
[25] Greveler 25.10.2020.
[26] Hinz 18.10.2020
[27] BVerfG Beschluß vom 19. August 2015 – 1 BvR 2388/11 –
[28] BVerfG, Urteil vom 17. August 1956 – 1 BvB 2/51 –, BVerfGE 5, 85-393, Rn. 208, KDP-Urteil.
[29] Müller-Franken, S.62
[30] Carl Schmitt, Der Leviathan, 1938 (1982) S.69.
[31] Hobbes, Leviathan, 1.Teil, 13. Kap., S.114 ff.
[32] Gracián (1647) S.27, Nr.43.
[33] Schrader, S.66 f.
[34] De Lagarde 1884 (1014), S.176.
[35] Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932) S.46 f.
[36] Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), S.33.
[37] Moffett (2019), S.249.
[38] Moffett (2019) S.393.
[39] Moffett (2019) S.400.
[40] Zitate: Murray, S. 142 f.
[41] Nicolas de Vernuls, De una et diversa religione.
[42] George Orwell, 1984, S.28.
[43] Caspar von Schrenck-Notzing, Criticón 1993,155.
[44] Carl Schmitt, Der Leviathan, 1938 (1982) S.65.
[45] Armin Mohler, Liberalenbeschimpfung (1990), S.133.
[46] Martin Kriele, FAZ 4.5.1994.
[47] Ernst-Wolfgang Böckenförde (1991) S.284.
[48] Martin Kriele, FAZ 6.4.1994.
[49] Panajotis Kondylis, FAZ 21.12.1994.
[50] Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte (1967), S.52.
[51] Eibl-Eibesfeldt (1988), S.116.
[52] Tipold JF 6.10.2020.
[53] Eibl-Eibesfeldt (1988), S.117.
[54] Moffett (2019) S.356.
[55] Moffett (2019) S.390.
[56] Eibl-Eibesfeldt (1994), S.114.
[57] Eibl-Eibesfeldt (1988), S.117.
[58] Eibl-Eibesfeldt (1994), S.114.
[59] Klaus-Rüdiger Mai 11.10.2020
[60] Fichte, Reden an die deutsche Nation, 8. Rede, S.138.
[61] Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, § 17, S.242.
[62] Nietzsche (1886), Nr.44, S.45 f.
[63] Roedig NZZ 11.8.2015, Rezension von: Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung, 2015.
Bernhardt
Siehe die Mutigen gibt es noch !
(dpa) – Die Journalisten Maria Ressa und Dmitri Muratow sind mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.
Das geschriebene Wort die Waffe ist, in dem die Wahrheit ihr Ziel ist und jede Aufdeckung von Machtmissbrauch ihr Sieg ist“, sagte Nobelkomitee-Vorsitzende Berit Reiss-Andersen. „Wir müssen an ihrer Seite stehen und jeden Journalisten in jedem Teil der Welt unterstützen, der für die gleichen Ziele arbeitet. Damit verteidigen wir die Meinungsfreiheit und die Demokratie.
Uwe Lay
Schwäche und Stärke
Offenkundig muß die politisch herrschende Klasse sich eingestehen, daß es ihr nicht gelingt, aus ihrer Sicht hinreichend genügend von der Richtigkeit ihrer Politik zu überzeugen. Zuviele denken oppositionell. Deshalb erzeugt sie jetzt ein Klima, in dem
Oppositionelles, politisch Inkorrektes so sehr diskriminiert wird, daß viele sich nicht
mehr trauen, oppositionell sich zu artikulieren. Damit verschwinden die oppositionellen Gedanken zwar nicht, aber sie bleiben isoliert und so politisch ungefährlich. So muß das doch als Erfolg der Regierenden verbucht werden.
Das Grundgesetz stützt sich auf das Narrativ, daß die Weimer Republik an zu viel
an Liberalität gescheitert ist, sie wäre keine wehrhafte Demokratie gewesen. Man konnte eben die NSDAP und die KPD nicht verbieten, bevor sie in freien Wahlen zusmmen über 50 % der Parlmentssitze erlangten und somit eine demokratische
Regierung verunmöglichten. Deshalb gilt jetzt, daß alle politischen Freiheitsrechte
einschränkbar sind, wenn der Gebrauch von ihnen die Demokratie, sprich die
Parteienherrschaft der etablierten Parteien gefährdet.
Im aktuellen politischen Diskurs zeichnet sich so klar die Tendenz heraus, zum
„Schutze“ der Demokratie die politischen Freiheitsrechte einzuschränken. Daß dann
Menschen ob ihrer politischen Gesinnung diskriminiert werden, wird dabei bejaht.
Unter der Parole: „Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda“ sollen so nur noch politisch
korrekte Meinungsäußerungen zugelassen werden. Man kann nicht umhin, daß
diese Strategie erfolgreich ist, auch wenn es immer noch zu viele Dissidenten gibt.