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Begriffe sind heimtückisch. Alle abstrakten Begriffe eignen sich dazu, den Zuhörer zu manipulieren. Sie spinnen ihn in ein kaltes, graues Begriffsnetz, aus dem er nicht entkommen soll. Sie träufeln ihm das Weltbild des Sprechenden ein und verlangen Gehorsam.

Darum eignen sie sich ausgezeichnet für politische Propaganda. In geistigen Bürgerkriegsszenarien gilt es für jede Seite, Positionen und Begriffe zu erobern und zu besetzen, die eigenen als positiv anzupreisen und die gegnerischen zu verdammen. Daß eine Grundidee sich durchgesetzt hat, erkennt man daran, daß jetzt um ihre begriffliche Auslegung gestritten wird. Der in Lausanne lehrende Philosoph Michael Esfeld wies in einem Vortrag am 6.10.2024 darauf hin:

…. daß ich das aufnehmen möchte, was gestern über Demokratie gesagt wurde und was auch von der herrschenden Politikerschicht immer gesagt wird, daß wir einer Demokratie leben würden, die wir bewahren und retten müssen. Und genau, diese Leute, die das sagen, verletzen die Demokratie, und ich würde das etwas zugespitzt sagen: Wir leben eben nicht in einer Demokratie, denn in einer Demokratie ist das Volk, also wir, wir Bürgerinnen und Bürger, souverän. Und wenn die Regierung uns einfach über Nacht unsere Grundrechte nehmen kann, indem sie behauptet, es sei irgendwas Gefährliches da, und diese Regierung müsse uns jetzt schützen und allerhand Schutzmaßnahmen ergreifen, die darauf hinauslaufen, daß wir unsere grundlegenden Rechte nicht mehr haben, also nicht mehr entscheiden können, mit wem wir uns treffen, mit wem wir wirtschaftliche Verträge eingehen, nicht mehr auf die Straße rausgehen können, auch nicht mehr unsere Meinung so frei sagen können, dann haben wir keine Demokratie.

Michael Esfeld, Die Rückkehr zur Realität, Vortrag am 6.10.2024 beim kritischen Musikfestival in Weimar

Wenn die Regierung unsere Rechte davon abhängig mache, daß sie keinen Ausnahmezustand ausrufe, stufe sie unsere Rechte zu Privilegien herab, die sie gewähren oder entziehen könne. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, wie schon Carl Schmitt gewußt habe. Das Corona-Regime zeigte erneut, daß dieser Souverän der Bundestag ist und nicht das Volk.

Die Herrschaft der Eliten

Er herrscht zwar im Namen des Volkes. Die Macht geht vom Volke aus, heißt es. Aber damit geht sie zugleich von ihm weg. Das Problem ist in einer Massengesellschaft auf demokratietheoretischer Ebene nicht lösbar. In einem 80-Millionen-Volk könne das ganze Volk sich selbst regieren, wäre eine Utopie. Es ist keine Regierungsform denkbar, die ohne Funktionseliten auskommt. Fettaugengleich schwimmt ein gewisser Charaktertyp immer oben in der Suppe, ganz gleich in welcher. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet uns dafür unzählige Beispiele.

In Idealfällen der Geschichte schart sich die Masse um ihre Eliten, weil ihre Interessen miteinander in Einklang stehen. Sobald das für jedermann offenkundig nicht mehr der Fall ist, kann das zu einem dramatischen Elitenwechsel führen. Aufgrund des ehernen Gesetzes der Oligarchie herrschen dann andere Eliten, aber in der Art und Weise ihres Herrschens werden sie ihren Vorgängern mit der Zeit immer ähnlicher.

Weil es immer irgendwelche beherrschenden Eliten gibt, ist es müßig, sich darüber aufzuregen. Realistisch kann es nie darum gehen, daß gar keine Elite oben auf der Suppe schwimmt, sondern nur darum, welche. Wenn unsere herrschende politmediale Klasse abschätzig von „populistischer Elitenkritik“ spricht, lenkt sie davon ab, daß „Populisten“ gewöhnlich nichts Grundsätzliches gegen Elitenherrschaft vorbringen. Sie meinen lediglich, uns würden die verkehrten Eliten beherrschen, das könnten sie selbst als neue Eliten viel besser. Daß ein solcher Machtansprucht nicht unverhüllt erhoben wird, versteht sich von selbst. Er wird – natürlich – im Namen der Demokratie erhoben, des Zauberwortes, über dessen Ansehen kein Streit besteht.

Globaler Herrschaftsanspruch

Der Machtkampf entbrennt um die Frage, wer „Demokratie“ zu definieren befugt ist und sich mit dem Begriff schmücken darf. „Herrschaftsverhältnisse sind längst „Definitionsverhältnisse“.[1] „Die Macht liegt heute dort, wo die Formeln und Begriffe entstehen, mit denen die Leitmedien Wirklichkeit beschreiben, und wo so auch bestimmt wird, wo wir hinschauen und wo nicht.“[2]

Schon im 20. Jahrhunderts bezeichneten sich selbst die finstersten kommunistischen Diktaturen als Demokratie: als „Volksdemokratien“ nämlich.

Rein begrifflich war es also eine inhaltsleere Phrase, als US-Präsident Woodrow Wilson am 2.4.1917 proklamierte:

Die Welt muß für die Demokratie sicher gemacht werden. Sein Frieden muß auf den bewährten Grundlagen der politischen Freiheit errichtet werden. Wir verfolgen keine selbstsüchtigen Ziele.

Woodrow Wilson 1917 (nach automatischer Übersetzung)

Mit den bewährten Grundlagen der politischen Freiheit meinte er konkret das amerikanische Rechts- und Verfassungssystem. Die ganze Welt nach ihrem Vorbild „sicher zu machen“, beinhaltete einen globalen Herrschaftsanspruch.

Dem ehernen Gesetz der Oligarchie konnten auch die USA niemals völlig entgehen. Emotional möchte sich der Durchschnittsamerikaner von seinem  Staat möglichst wenig vorschreiben lassen. Diese Haltung drückt sich in der rechts- oder nationalliberalen Partei der Republikaner besonders aus, während manche städtischen Milieus zu linksliberaler obrigkeitlicher Fürsorgepolitik neigen. Die entscheidende Weiche hatte die Reise aber schon eine Station früher festgelegt auf eben Liberalismus, und das hatte entscheidende Konsequenzen für die Elitenbildung. Nachdem die USA ihre „bewährten Grundlagen der politischen Freiheit“ nach Deutschland exportiert haben, gelten sie auch für uns:

Wenn der Staat ein allgemeines Gewaltmonopol beansprucht und den Bürgern im übrigen Handlungsfreiheit läßt, wächst der Geldmacht innergesellschaftlich der ausschlaggebende Einfluß zu. Geld wird geradezu zur Chiffre und zum Synonym für Macht. In einer liberalen Gesellschaft kann man die Macht eines Menschen oder einer Organisation in Geld wägen. Wer die Verfügungsmacht über das Geld in der Hand hat, kann im Endeffekt alles steuern. Er kann sich in unseren Tagen zum Beispiel mal eben eine Nachrichtenplattform oder einen Zeitungsverlag kaufen. Seine Kontrolle über die verbreiteten Nachrichten stabilisiert seine Macht weiter.

Joseph Ferdinand Keppler, Die Bosse des Senats, USA, Puck 1889.

Die Plutokratie

Der Begriff der Plutokratie, also der Herrschaft der Reichsten, ist kein verfassungsrechtlicher. Viele Herrschaftssysteme können, soziologisch gesprochen, Plutokratien sein.

Aristoteles hatte sie noch für eine Entartungsform der Aristokratie gehalten.

Dagegen grenzte Aristoteles die Aristokratie von der Plutokratie ab, von der Herrschaft des Geldes oder der Reichen, die er als Fehlform oder Entartung der A. betrachtete. Für Platon und Aristoteles war offensichtlich, daß die Reichsten nicht die Besten und Edelsten sind.

Das Rechtslexikon. Begriffe, Grundlagen, Zusammenhänge. Lennart Alexy / Andreas Fisahn / Susanne Hähnchen / Tobias Mushoff / Uwe Trepte. Verlag J.H.W. Dietz Nachf. , Bonn, 2. Auflage, 2023. Lizenzausgabe: Bundeszentrale für politische Bildung.

Unsere zeitgenössische Politikwissenschaft wird da präziser: Der serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanović arbeitete jahrzehntelang als Chefökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank und ist seit 2014 als Dozent am City University of New York Graduate Center tätig. Er verglich in einem Interview die kapitalistischen Systeme der USA und Chinas:

Die Unterschiede zwischen den beiden Systemen liegen auf der Ebene des politischen Systems. Der liberale Kapitalismus basiert auf Demokratie, beziehungsweise zunehmend auf einer Art Plutokratie – die Reichen haben großen Einfluß auf politische Entscheidungen. In China gibt es ein Einparteiensystem, in dem der Staat autonom ist und große Möglichkeiten hat, die Kapitalisten zu beeinflussen. Und da gibt es keine Rechtsstaatlichkeit.

Branko Milanović, im Interwies mit Zoran Arbutina, „Ungleichheit führt zu einer neuen Aristokratie“, Deutsche Welle 25.1.2021

Je mehr eine Gesellschaft soziologisch zur Plutokratie neigt, desto weniger lassen sich politische Entscheidungen auf den Willen der Mehrheit zurückführen. Die global agierenden Herren über unsere sozialen Medien und „NGOs“ sind nämlich durch keine Wahlen auch nur scheinbar legitimiert. Sie üben mittelbar eine wachsende Macht aus, die in direktem Gegensatz zum demokratischen Prinzip steht. Dieses besagt im Parlamentarismus, daß alle Macht von unten nach oben, also vom Volk zu den Staatsorganen hin und nicht umgekehrt ausgeübt werden darf. Wenn aber Volk und Staatsorgane mittelbar durch finanzielle Zuwendungen Reicher gesteuert werden, delegitimiert unser gesamtes System.

Auf die Frage: „Wenn der Anstieg der Ungleichheit zur Stärkung der Plutokratie, das heißt der Herrschaft der Reichen, führt, bedeutet dies, dass man sich von demokratischen Prinzipien entfernt?“, antwortete Milanović darum:

Ja, auf jeden Fall. Dies zeigt sich insbesondere in den USA durch die Finanzierung politischer Kampagnen. Jeder kann Geld spenden: nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Unternehmen, Banken, Lobbyisten, Investmentfonds. Und wenn man das Geld gibt, normalerweise erwartet man auch etwas dafür. Demokratie wird zur Plutokratie. Dies wird dann in dem Gesetzgebungsprozeß sichtbar – durch die gewählten politische Vertreter, zu deren Wahl sie beigetragen haben, beeinflussen Lobbyisten die Gesetze. Dies verkehrt das Prinzip der Demokratie. Politische Macht wird allmählich mit finanzieller Macht gleichgesetzt, und das ist die Definition von Plutokratie. Auf dem Weg dorthin sind die USA schon weit fortgeschritten.


Branko Milanović, im Interwies mit Zoran Arbutina, „Ungleichheit führt zu einer neuen Aristokratie“

Das Problem wird auch in Deutschland gesehen. Giacomo Corneo vom Lehrstuhl für öffentliche Finanzen an der FU Berlin, machte Gegenvorschläge:

Der Aktienmarktsozialismus ist vor allem weniger anfällig für eine Umwandlung der Demokratie in eine Art Plutokratie. Daher könnte dieses Wirtschaftssystem die „Alternative in Sicht“ sein, in deren Richtung wir uns bewegen sollten.

Giacomo Corneo, Marktsystem ohne Kapitalisten, Aus Politik und Zeitgeschichte 19.8.2015, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung.

Mit sozialistisch halbierter Venunft formulieren manche: Die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher. Weil in einem Staat mit Gewaltmonopol aber Geld nur die beherrschende Ausdrucksform  der Macht ist, müßte der Satz lauten: Die Mächtigen werden immer mächtiger, und die Machtlosen immer machtloser.

Darum braucht für Spott und Kritik nicht zu sorgen, wer den heutigen Zustand Deutschlands als „unsere Demokratie“ bezeichnet.

Antisemitische Codes

In der Geschichtswissenschaft stritten einst erbittert die Anhänger personifizierender Geschichtsdeutungen gegen Strukturalisten. Die einen behaupteten, ohne bestimmte „große Männer“ wäre alles ganz anders gekommen. Die anderen, aufgrund historischer Gesetzmäßigkeiten hätte die Geschichte dann eben mit anderen Anführern den gleichen Verlauf genommen.

Ohne gut gefüllte Kriegskasse war schon Kaiser Maximilian I. machtlos und ließ sich von Jakob Fugger dem Reichen finanzieren. (Foto: K.Kunze im Amtsgerichtsflur Holzminden).

An beidem ist etwas Wahres: Nur in einer gegebenen historischen und gesellschaftlichen Lage kann ein politisches Genie seine volle Wirkung entfalten und Epochen prägen. Wer zu historischer und politischer Lageanalyse aber unfähig oder unwillig ist, neigt zu Personifizierungen. Vor Jahrzehnten hörte ich oft bezeichnende Formulierungen wie , was wohl „der Amerikaner“ macht, wenn „der Russe“ kommt. Noch früher, vor meiner Geburt, gab bei manchen Leuten „der Jude“ die willkommene Begrifflichkeit ab, kompliziertere Zusammenhänge nicht verstehen zu müssen.

Wer Kausalzusammenhänge und Strukturen nicht begreifen kann, versucht, sie zu personifizieren. Dadurch konstruiert er sich Scheinerklärungen. Diese nehmen oft den Charakter von Verschwörungstheorien an. Eine bekannten Verschwörungslegende hatte vor hundert Jahren gelautet, es gebe ein Weltjudentum, in dessen Namen so unterschiedliche „Aufträge“ erteilt würden wie an Baron Rothschild, Reichtum zu sammeln, an einen bolschewistischen Kommissar aber, Kapitalisten zu erschießen.

Die Widerspiegelung solcher Legenden finden wir bei manchen Leuten, die heute überall „Nazis“ wittern, wo man einst „Juden“ gewittert hatte. Die Verschwörungslegende lautet: Nazis gibt es überall, und ihre besondere Gefährlichkeit zeigt sich darin, daß sie „antisemitische Codes“ verwenden und sich so gut verstecken, daß niemand sie bemerkt – niemand außer den Inhabern einer speziellen Naziriechnase, versteht sich. Das liest sich dann nach meinem Blogbeitrag vom 28.Oktober etwa so:

Antisemitische Codes – Weite Teile des Artikels kommen wie alle Pamphlete der Neuen Rechten daher: Es wird die angebliche linke Hegemonie über Medien und Zivilgesellschaft beklagt, der unaufhaltsame Verfall demokratischer Institutionen betrauert und gegen Migration polemisiert. Andererseits wird der Autor ausgesprochen eindeutig, wenn er von der „Plutokratie“ schreibt und eine zutiefst antisemitische Karikatur zu Beginn des Artikels positioniert.

Anonymus, Höcke lobt antisemitischen Artikel, 26.11.2024. in: Geschichten statt Mythen, Forschungs- und Dokumentationsprojekt am Lehrstuhl Geschichte in Medien und Öffentlichkeit der Friedrich-Schiller-Universität Jena in Kooperation mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Das Projekt wird von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) gefördert.

Wer die Motivation des anonymen Schreibers sucht, muß die Spur des Geldes zurückverfolgen, mit dem er bezahlt wird: Die Universität und die Stiftung arbeiten mit staatlichen Geldmitteln. Dagegen erleichtert finanzielle Unabhängigkeit ungemein das unabhängige Denken. Es erkennt:

Alles Handeln ist geleitet von persönlichem Eigeninteresse oder dem, was der Handelnde dafür hält. Das gilt für anonyme Verschwörungstheoretiker, die überall „antisemitische Codes“ entdecken, genauso wie für Juden. Die Erklärung für ein individuelles Handeln finden wir in jedem Fall im Eigeninteresse. Die Herkunft der Person ist irrelevant. Was das Eigeninteresse konkret fordert, hängt von den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab und nicht von der Herkunft.


[1] Ulrich Beck, Die Metamorphose der Welt, Berlin 2017, S.129, 132.

[2] Michael Meyen, Die Propaganda-Matrix, München 2021, S.15.