Nach den Anschlägen von Hanau und Volkmarsen
Nach grauenvollen Taten mit vielen Opfern ist die Öffentlichkeit aufgewühlt. Nirgend läßt sich das besser nachvollziehen als auf Twitter, dem schnellsten sozialen Netzwerk mit der kürzesten Halbwertszeit seiner Nachrichten.
Bei den meisten ist der Wunsch übermächtig, zu erfahren, wer der Täter war und was ihn trieb. Dagegen erheben sich sofort mahnende Stimmen, es sei gleichgültig, wer und was für einer der Täter sei. Wieder andere geben sich mitfühlend: Man solle sich mehr für die Opfer interessieren, „bei denen alle unsere Gedanken jetzt sind“.
In Gedanken bei den angefahrenen Kindern aber möchte ein halbwegs sensibler Mensch am liebsten überhaupt nicht sein. Helfen kann er ihnen nicht. Und eine Endlosschleife im Kopf mit ausgemalten Vorstellungen von Kindern als Opfer wäre unerträglich. Selbst wenn die Körperverletzungen heilen: Was durchlebt so ein Kind emotional in Zukunft immer wieder, wenn es so jäh aus der größten Karnevalsfreude ins tiefste Leid gestürzt wurde? Um sich selbst vor solchen Albtraumbildern im Kopf zu schützen, muß man auf innere Distanz gehen. Für die am Ort helfenden Hände heißt das: professionelle Distanz.
Es lohnt aber, sich rein rational mit den Mechanismen zu befassen, die den öffentlichen Zorn sein Opfer suchen lassen. Hier wird es nämlich schnell politisch. Wie allgemein menschlich das Verlangen ist, einen Täter namhaft zu machen und zur Verantwortung zu ziehen, schrieb schon Friedrich Schiller:
Und jammernd hörens alle Gäste,
Versammelt bei Poseidons Feste,
Ganz Griechenland ergreift der Schmerz,
Verloren hat ihn jedes Herz.
Und stürmend drängt sich zum Prytanen
Das Volk, es fordert seine Wut,
Zu rächen des Erschlagnen Manen,
Zu sühnen mit des Mörders Blut.Doch wo die Spur, die aus der Menge
Friedrich Schiller, Die Kraniche des Ibykus
Der Völker flutendem Gedränge,
Gelocket von der Spiele Pracht
Den schwarzen Täter kenntlich macht?
Sind’s Räuber, die ihn feig erschlagen?
Tat’s neidisch ein verborgner Feind?
Nur Helios vermags zu sagen,
Der alles Irdische bescheint.
Gerade besonders abscheuliche Taten bringen jeden Menschen gegen den Täter auf. Am Beginn allen Fragens aber steht immer die Frage: Wer war das? Die Frage ist ur-menschlich. Sie entspringt der Angst, selbst das nächste Opfer zu sein. Man möchte wissen, wovor man sich in acht zu nehmen hat.
Ein Täter ist gefährlich. Eine ganze Wissenschaft, die Kriminologie, konstruiert sich Täterprofile. Diese haben den Zweck, nach übereinstimmenden Merkmalen verschiedener Täter zu suchen. Damit kann man dann zum Beispiel als Richter arbeiten, wenn man über einen Täter zu urteilen hat und für seine Zukunft eine Sozialprognose abgeben muß. Solche Täterprofile dienen nämlich auch dem Schutz der Öffentlichkeit vor weiteren Taten. Es gibt Tätergruppen, von denen eine bleibende Gefahr ausgeht, zum Beispiel Sexualstraftäter, Drogenabhängige bei der Beschaffungskriminalität oder politische oder religiöse Fanatiker.
Darum will die Öffentlichkeit nach einer erschütternden Tat immer wissen, was für einer der Täter war. Vor was für Leuten muß man sich in acht nehmen und die Kinder warnen? „Geh nicht mit fremden Männern mit!“, hieß es schon in meiner Kinderzeit aus gutem Grund. „Männer“ war die Kategorisierung eines bestimmten Tätertyps. Von Frauen waren sexuell motivierte Übergriffe auf Kinder nicht bekannt. Bekannt waren aber die Kindermorde des Sexualtäters Jürgen Bartsch.
Keinen Schutz gibt es freilich vor Morden, die in schizophrener Psychose begangen werden. Am 11.6.1964 stürmte der Geisteskranke Walter Seifert eine Volksschule in Köln-Volkhoven und tötete mit einem Flammenwerfer acht Kinder und zwei Lehrerinnen. Auf die Frage nach dem Grund für seine Tat gab er an, daß man ihn habe töten wollen. Er beschuldigte, wie schon in einigen seiner früheren Briefe, mehrere Ärzte namentlich. Er habe weder eines der Kinder, eine der Lehrerinnen noch die Schule gekannt oder „Ärger“ mit ihnen gehabt
Drei Jahre vor dem Amoklauf, am 11. Februar 1961, starb Seiferts Ehefrau nach einer Frühgeburt an einer Embolie, auch das Kind überlebte nicht. Daraufhin verfaßte er eine 120 Seiten umfassende Schrift mit dem Titel Muttermord – Einzelschicksal und Analyse eines Systems, von der er mehrere Exemplare an Behörden und Ärzte schickte. In der Schrift wird deutlich, daß sich Seifert intensiv mit medizinischer Fachliteratur befaßt haben muß, die er nun anführte, um seine Schuldzuweisungen zu untermauern. Er griff die Ärzte seiner Frau an, denen er vorwarf, die Embolie falsch behandelt zu haben, und bezeichnete sie als „Mörder“. Die Gesellschaft sei ein „Verbrechersystem“, dessen Grundlagen auch für die Ärzte gültig seien.
Auch der Geisteskranke Tobias Rathjen aus Hanau hatte seine Opfer nicht gekannt. Auch in seinem paranoiden Wahn war „die Gesellschaft“ verbrecherisch, gesteuert von geheimdienstlichen Mächten. Paranoide Schein-Rationalisierungen und die Begehung von Wahnsinnstaten unter Berufung auf vorhandene gesllschaftliche Phänomene kennzeichnen aber einen völlig anderer Tätertyp als den geistig gesunden, religiösen oder extremistischen Fanatiker wie im Falle der islamischen Massenmorde der letzten Jahre in Europa, der NSU-Morde oder der RAF-Morde.
Zum nötigen Wissen über einen Täter gehören die Frage nach seiner Zurechnungsfähigkeit, bei geistig Gesunden seiner Motive und natürlich seine etwaige Ideologie, Religion und Nationalität. Aus allem und der Kombination aller Merkmale kann man Schlüsse ziehen. Daß nicht jeder dieselben Schlüsse zieht, liegt in der Natur der Sache.
Es ist nicht nur menschlich verständlich, sondern auch sinnvoll, nach grauenvollen Taten danach zu fragen, was für einer und wes Geistes Kind der Täter ist. Diese Frage wird aber nicht nur aus solchen lauteren und nachvollziehbaren Motiven gestellt.
In ihren geistigen Schützengräben lauern Stammtisch-Strategen, die jedem Täter gern ein Brandzeichen aufdrücken wollen, das ihn als ihren politischen Gegner markiert. Heute lechzten viele Twitter-Nutzer förmlich danach, der in Volkmarsen in einer Gruppe Karneval feiernder junger Leute fuhr, möge ein Marokkaner gewesen sein. Das würde hervorragend in ein Feindbild passen, demzufolge wir ständig von islamischen Anschlägen bedroht sind. Das sind wir zwar tatsächlich. Hinter jedem Anschlag einen Moslem und in jedem Moslem einen potentiellen Attentäter zu sehen, wäre aber ein Hirngespinst oder eine Wunschvorstellung zur Beförderung der eigenen politischen Positionen.
Nach der Tat von Hanau lechzten die Vertreter vieler Parteien und die meisten Medienleute förmlich danach, der schizophrene Massenmörder Tobias Rathjen möge ein Rechtsextremist sein. Das würde hervorragend in ein Feindbild passen, demzufolge wir ständig von rechtsextremen Anschlägen bedroht sind. Ich weiß nicht, ob wir das sind. Hinter jedem Anschlag einen Rechtsextremisten und in jedem Rchtsextremisten einen potentiellen Attentäter zu sehen, wäre aber ein ebensolches Hirngespinst oder eine Wunschvorstellung zur Beförderung der eigenen politischen Positionen.
Ein Täter wie Rathjen, der seine eigene Mutter ermordete und von der Auslöschung fremder und des halben deutschen Volkes träumte, war nicht rechtsextremistisch, sondern schlicht wahnsinnig. Die täglich im Radio stereotyp die Lüge vom „rechtsextremistischen Anschlag von Hanau“ wiederholen, betreiben eine leicht durchschaubare Propaganda. Vermutlich wirkt sie bei vielen, zumal wenn diese Radio oder Fernsehen nur oberflächlich oder nebenbei wahrnehmen.
Immer wieder muß der Blick sich genau auf den konkreten jeweiligen Täter richten und diesen zutreffend kategorisieren. Andernfalls lassen sich keine allgemeingültigen Schlußfolgerungen ableiten. Wer dies trotzdem unternimmt, instrumentiert in zynischer Weise die Opfer, und bei einem geisteskranken Täter auch ihn.
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