Wie sich die Moral selbst ad absurdum führt

Moral hat Hochkonjunktur. In unserem Lande wird moralisiert wie noch nie. Die Corona-Epidemie in Deutschland zeigt uns dabei die Schwächen moralisierender Appelle erbarmungslos auf. Wo Moral an Realität stößt, kann sie das Leben unlebbar machen und büßt sie ihren Alleinherrschaftsanspruch ein.

Moral entspringt menschlicher Denktätigkeit Wo Moralisten eine Herrschaft der Moral fordern, verlangen sie tatsächlich die Herrschaft derjenigen Menschen, die eine Kompetenz für sich beanspruchen, über den konkreten Inhalt der Moral und ihre Anwendung auf den Einzelfall bestens bescheid zu wissen. Das sind die beruflichen Moralphilosophen, es sind die Theologen, die schon immer zu wissen meinten, was gut und böse sei, und es sind Parteipolitiker. Diese halten rein zufällig immer genau dasjenige für moralisch geboten, was ihre Machtambitionen stützt.

Zur Zeit dürfen wir alle unsere Grund- und Freiheitsrechte nicht im Rahmen des sonst geltenden Rechts ausüben. Die staatlichen Verbote werden damit begründet, die Moral gebiete sie, sonst stürben Menschen.

Nun geht es praktisch nicht um eine staatliche Lizenz zum Töten, wenn Gastwirte wieder öffnen wollen. Es geht tatsächlich um das strikte Verbot, durch sein eigenes Handeln das Sterberisiko anderer Menschen zu erhöhen. Dieses Sterberisiko wird sonst als Bestandteil des eigenen Lebensrisikos gesehen. Wir verbieten nicht das Autofahren trotz Tausender Verkehrstoter und den Alkohol trotz Tausender alkoholkranker Todesopfer.  Bei Anwendung derselben absoluten Moralmaßstäbe wie in der Corona-Frage müßten wir das eigentlich. Aber wollen wir einen so übergriffigen Staat, der uns zu unserem Besten zwingt?

Kein Moralisieren hilft hier weiter. Jede absolut gesetzte Moral ist selbst ein Übel. Sie verdrängt unsere freie Entscheidung und unsere Mündigkeit.

Die Rhetorik der Angst kennt keine Fragen, nur Antworten. Ihr Sujet ist das Absolute, ihre Grammatik die der Verfügung. Wer abwägt oder nach der Verhältnismäßigkeit der angeordneten Maßnahmen fragt, setzt sich dem Vorwurf aus, es mit der Moral nicht so genau zu nehmen. Er wolle wohl Wirtschaftsdaten gegen Menschenleben aufrechnen, heißt es dann. Dabei müßte man aus meiner Sicht im Gegenteil viel mehr fragen und abwägen.

Hat jemand die Alten gefragt, ob sie die völlige Isolation wollen?

Es werden jetzt verschiedene Modelle erwogen. Eines sieht vor, daß man alles tut, um die Alten und Schwachen zu schützen. Das klingt christlich. Aber hat jemand die Alten und Schwachen gefragt, ob sie wirklich alle den maximalen medizinischen Schutz wollen? Ist es nicht vorstellbar, daß viele Menschen ab einem gewissen Alter finden, daß ein Leben in der Selbstisolation es nicht wert ist, daß man dafür nahezu alles an sozialer Begegnung opfert?

Jan Fleischhauer, Rhetorik der Angst: Wie die Regierung die Deutschen in die Corona-Starre versetzt, FOCUS online 18.4.2020

Wer die Reduzierung des Sterberisikos aller Menschen als Wert absolut setzt, vergißt, daß ihr Leben für viele Menschen kein Selbstzweck ist. Oft wurden gerade solche Menschen besonders geliebt und bewundert, die ihr Leben für andere aufgeopfert haben. Aber nicht nur sterben kann man für einen geliebten Anderen. Unzählige Menschen haben in der Geschichte schon ihr Leben dem uneigennützigen Dienst an ihren Mitmenschen geweiht. Wer seine Identität darauf gründet, für bestimmte geliebte Menschen da zu sein, muß selbst entscheiden dürfen, ob er sein Sterberisiko durch persönliche Kontakte erhöht. Manche Menschen sehen ein Leben in der Isolation zum Beispiel eines Altersheims als sinnlos an. Daß uns die persönliche Entscheidung durch strikte Verbote abgenommen wird, führt tagtäglich zu ungezähltem menschlichen Leid:

An dieser Stelle erlaube ich mir eine ganz persönliche Einschätzung. Am Mittwoch vergangener Woche ist mein Vater in einem Altenheim in Hamburg gestorben. Er war 90 Jahre alt. Das Ende hatte sich seit einigen Wochen angekündigt, dennoch blieb meinem Bruder und mir keine Gelegenheit mehr, uns von ihm zu verabschieden. 

Das Altenheim läßt seit März keine Verwandtenbesuche mehr zu, um die Bewohner nicht zu gefährden. Nur für meine Mutter wurde eine Ausnahme gemacht. Ich bin dafür dankbar. Auch wenn mein Vater in den letzten Monaten nicht mehr alles mitbekam, was um ihn herum geschah, so spürte er doch, wenn jemand von uns im Raum war. Es würde mich sehr quälen, wenn ich wüßte, daß er völlig vereinsamt gestorben wäre.

Ich habe Verständnis für die Quarantänebestimmungen. Natürlich frage ich mich manchmal, ob eine Verlängerung des Lebens um einige Wochen oder Monate den Preis wert ist, den man dafür entrichten muß. Aber so ist es nun einmal entschieden worden. Außerdem sind nicht alle im Heim so alt, wie mein Vater es war. Jeder trifft für sich eine andere Risikoabwägung.

Ich habe nur einen Wunsch. Ich will nicht mehr hören, daß ich gut reden hätte. Meine Familie hat ihren Preis für die Einhaltung der Corona-Regeln bezahlt, würde ich sagen. Ich weiß im Gegensatz zu manchen, die auf der Kanzel stehen und über den Wert des Lebens predigen, was es heißt, wenn der Schutz desselben absolut gesetzt wird.

Jan Fleischhauer im Focus

Im Konflikt zwischen der Verminderung der Sterberisiken und den menschlichen Bedürfnissen nach sozialem Leben hilft uns die Moral nicht weiter. Sie beruht nämlich auf starren Prinzipien. Einen anderen nicht in Lebensgefahr zu bringen ist ebenso ein moralisches Prinzip, wie ihn nicht vereinsamen zu lassen. Hier muß die Fachphilosophie zugeben:

Sowohl innerhalb der Medizin als zwischen den verschiedenen Kräften der Gesellschaft entstehen dilemmatische Situationen. Das sind solche, in denen Konflikte zwischen moralischen Prinzipien unlösbar werden: Egal was man tut, man macht schließlich etwas Falsches. […]

Auf die Frage, wie viele „Opfer“ die Gesellschaft für die Rettung der Corona-Patienten bringen soll, scheint es – zumindest aus der strengen Perspektive einer Pflicht- oder Prinzipienethik – nur eine Antwort zu geben: Die Rettung menschlichen Lebens übertrumpft wohl als höheres Gebot der Medizin die wirtschaftlichen Rücksichten. Der Vorwurf, man opfere ältere und gesundheitlich fragile Patienten sozialen und wirtschaftlichen Interessen, klingt ungeheuerlich.

Véronique Zanetti, Die unausweichliche Tragik moralischer Kompromisse. Warum wir nicht mit guten Gewissen aus der aktuellen Lage herauskommen. Sind Kompromisse in der Moral tabu?

Die Philosophin empfielt Kompromisse als zweitbeste Lösung. Es liegt allerdings in der Natur moralischer Prinzipien, daß jedes Prinzip für sich genommen keinem Kompromiß zugänglich ist. Jede Einschränkung würde es verletzen. Dementsprechend rigide argumentieren ja auch unsere Regierungsmoralisten: Der Wert menschlichen Lebens ist keinem Kompromiß zugänglich. Zanetti gibt zu: „Gibt es nicht, wie auf der Waage, ein gemeinsames Maß für die gegeneinander abzuwägenden Güter, sind sie unvergleichbar, läßt uns die Metapher des Abwägens oder des Sich-in-der-Mitte-Treffens im Stich.“

Bei allem wird stillschweigend vorausgesetzt, daß Ungehorsam gegenüber den staatlichen Freiheitsbeschränkungen unweigerlich zum Tod von Menschen führt. Tatsächlich wird aber lediglich das Sterberisiko erhöht, und zwar auch nur dann, wenn es sich nicht durch geeignete Schutzmaßnahmen wieder reduzieren läßt. Trotz Verkehrsunfalltoter fahren wir Auto, denn es gibt ja eine Straßenverkehrsordnung. Von technischem Versagen abgesehen dürfte niemand zu Schaden kommen, wenn alle Menschen alle ihre Regeln achten würden.

Wenn die Moral also aus ihren Prinzipien heraus unfähig ist, zu einem verbindlichen Ergebnis zu gelangen, steht sie insgesamt als handlungsleitende Idee in Frage:

Wir sind davon ausgegangen, daß wir mit einer tragischen Entscheidung konfrontiert sind, mit einer Situation also, in der eine Abwägung zwischen allgemeiner Nützlichkeit und Rechten (‚Kosten‘) sich nicht praktizieren läßt, ohne dabei grundsätzliche Prinzipien der Moral zu relativieren. Für diejenigen, die bestreiten, daß es solche Prinzipien gibt oder daß sie untereinander in unauflösbaren Konflikten stünden, stellt sich das Problem nicht. 

Véronique Zanetti, ebenda

Zwischen staatlichem Recht und moralischen Bedenken besteht ein klarer Unterschied: Das staatliche Recht ist ein uns von herrschenden Menschen aufgegebener Befehl, an den wir uns halten müssen. Es gibt aber keine „herrschende Moral“, die uns zwingen könnte. Es gehört zu den großen Errungenschaften der Aufklärung, daß wir uns von magischen, religiösen und anderen metaphysischen Vorstellungen befreit haben. Jedermann kann sich seine eigene Moral ausdenken. Es gibt so viele Moralen wie es verschieden denkende Menschen gibt. Moral ist unverbindlich, historisch zeitbedingt, kulturell bedingt und von persönlichen Interessen abhängig.

Jeder kann sich klar machen: Meine Moral gehört mir. Ihre Prinzipien habe ich mir selbst gebildet. Sie helfen mir beim Denken und Beurteilen. Sie dürfen es aber nicht beherrschen. Unter dem Eindruck neuer Lebenserfahrungen kann ich mich „moralisch“ weiterentwickeln. Was ich im Leben für wertvoll halte und welche Wertprinzipien zu mir passen, kann ich ändern. Untaugliche Prinzipien darf ich über Bord werfen.

Ich bin „moralisch“ nur mir selbst und meinem Gewissen verantwortlich. Niemand anderes darf sich zum Hüter meines Gewissens aufschwingen.

Es wird von Manchem so vieles in den Begriff der Menschenwürde hineininterpretiert, vom berechtigten Anspruch, nicht gefoltert zu werden, bis zu zweifelhaften Ansprüchen etwa auf ein „Grundeinkommen“ und einen Fernseher für alle.

Der Kern meiner Menschenwürde besteht aber in meiner moralischen Selbstbestimmung entgegen jedem staatlichen und gesellschaftlichen Moraldruck. Historisch hat sich die Idee der Menschenwürde gebildet anhand der christlichen Vorstellung von der „Würde“ eines Schöpfergottes, selbst nicht geschaffen sei er der freie Urheber auch moralischer Gebote. Analog bedeutet Menschenwürde in heutigem Verständnis, daß jeder frei seine eigene „Moral“ erschaffen darf.

Darum mag der Staat Gesetze erlassen, an die wir uns halten müssen. Er sollte aber zur Begründung das Gemeinwohl heranziehen und nicht irgendeine parteipolitisch gewünschte Moral. In der Straßenbahn einen Mundschutz zu tragen, um andere nicht zu gefährden, leuchtet ein. Aber ob ein mündiger Bürger sich selbst gefährdet, muß er selbst entscheiden dürfen. So mancher Hochbetagte in einem Pflegeheim sehnt sich nach menschlicher Zuwendung und Besuch seiner Nachkommen. Der eine oder andere weiß, vielleicht ärztlich, daß seine Tage gezählt sind.

Einsamkeit oder Tod? Die Frage sollte sich jeder selbstbestimmt beantworten dürfen.
(Caspar David Friedrich, Grab des Malers Gerhard von Kügelgen)

Leben und Sterben in menschlicher Würde verlangt, jeden selbst entscheiden zu lassen, ob und welchem Risiko er sich aussetzt. Im WDR-Radio erzählte ein alter Mann, isoliert wie er jetzt zwangsweise sei, fühle er sich „lebendig begraben“.

Millionen Menschen quasi Stubenarrest zu geben und sie gegen ihren Willen von ihren Mitmenschen abzuschneiden, ist das nicht – unmoralisch?

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