Autor des Grundgesetzes

Die Präambel unseres Grundgesetzes benennt „das deutsche Volk“ als seinen Autor: es habe sich „diese Verfassung gegeben.“ Das Volk war die Henne und das Grundgesetz ihr Ei.

Aus diesem Ei schlüpfte ein Küken, das über 70 Jahre lang über die Freiheit der Personen wachte. Deren Menschenwürde zu schützen gab sie dem Staat als oberste Verpflichtung auf.

Politische Kräfte, auch bereits Juristen, möchten das Grundgesetz jetzt umfunktionieren und zu einem Vogel machen, der seine eigene Mutter und Autorin verschlingt: das deutsche Volk. Vorläufig wird allerdings noch nicht gefressen, aber von ganz oben scharf beobachtet.

Objekt des staatlichen Argwohns sind sogenannte Identitäre. Das Verwaltungsgericht Berlin hat deren Antrag am 18. Juni 2020 vorläufig abgelehnt, nicht mehr vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden. Der Beschluß ist noch nicht rechtskräftig und liegt dem Oberverwaltungsgericht vor.

Für verfassungsfeindlich hält das Gericht die identitäre Sorge um unsere Identität als Volk:

„Zentrales politisches Anliegen des Antragstellers ist der Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand.“

VG Berlin, Beschluß vom 18.6.2020, S.6.

Weil niemand auf Anhieb verstehen würde, was daran verdächtig sein könnte, erklärt uns das Gericht es näher. Es behauptet: „Ethnisch Fremde sollen ausgeschlossen bleiben. Ein dergestalt völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff verstößt gegen die Menschenwürde.“

Es geht also um unterschiedliche Volksbegriffe.

Rechtliches und ethnisches Volk

Das Grundgesetz selbst nimmt in Art. 116 Absatz 1 die Unterscheidung zwischen deutschen Staatsangehörigen und deutschen Volkszugehörigen vor: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“

Man kann also dem deutschen Volk angehören, ohne deutscher Staatsangehöriger zu sein. Man kann auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ohne zwangsläufig deutscher Volkszugehörigkeit zu sein. Im Rahmen unserer Staatsverfassung mußte das Gesetz eine solche Unterscheidung treffen, um das Faktische vom rechtlichen zu trennen. An sie knüpft an, daß zum Beispiel einen Einbürgerungsanspruch hat, wer schon im Ausland als Deutscher gelebt hatte.

Sowohl das Grundgesetz als auch einfache Gesetze unterscheiden säuberlich zwischen deutscher Volkszugehörigkeit und deutscher Staatsangehörigkeit. Es behandelt die in ihrer Menschenwürde moralisch gleichen Menschen rechtlich ungleich.

Das VG Berlin sieht darin eine Diskriminierung, wenn es „rassisch motiviert“ sei,

denn die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, ungeachtet aller tatsächlich bestehenden Unterschiede. Sie wird beeinträchtigt bei allen Formen rassisch motivierter Diskriminierung sowie wenn einzelne Personen oder Personengruppen grundsätzlich wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden.

Daß der Betätigung des Antragstellers ein ethnisches Volksverständnis zugrunde liegt, zeigt seine zentrale Forderung nach dem Erhalt der ethnokulturellen Identität. Der Hintergrund dieser Forderung wird auf der Internetseite des Antragstellers erläutert dahingehend, dass das Staatsvolk – als Kultur-, Abstammungs- und Solidargemeinschaft – nicht beliebig austauschbar, sondern durch eine ethnokulturelle Kontinuität bedingt sei.

VG Berlin, Beschluß vom 18.6.2020, S.6.

Nun findet sich im mitgeteilten Sachverhalt des Gerichtsbeschlusses kein Wort dazu, Identitäre wollten jemanden rassisch diskriminieren. Den Vorwurf scheinen der Verfassungsschutz oder das Gericht frei erfunden zu haben. Es zieht darum eine eigene Schlußfolgerung an den Haaren herbei: „Erwünscht ist eine wie auch immer geartete Zuwanderung aber nicht, insbesondere wird wiederum deutlich, daß die Politik des Antragstellers auf den Erhalt der ethnischen „Reinheit“ letztlich aller Völker gerichtet ist.“

Woran das angeblich „deutlich“ werde, erfährt der Leser nicht. Würden Identitäre tatsächlich eine rassische Diskriminierung deutscher Staatsbürger fordern, zum Beispiel anhand eines Maßstabes rassischer Reinheit, hätte das Gericht ja Recht. Wenn man aber, wie ich, die identitären Quellen nicht kennt, ist man auf den im Beschluß des Gerichts mitgeteilten Sachverhalt angewiesen, in dem da nichts von steht.

Die kollektive Identität

Tatsächlich ergreift das Gericht hier Partei in einer gesellschaftspolitischen Diskussion über unsere kollektive Identität. Den Verteidigern unserer Identität als Deutsche steht ein extremistischer Multikulturalismus gegenüber.

Zur Menschenwürde zählt auch das Recht der Individuen, eine kollektive Identität zu entwickeln. Diese darf der Staat nicht hoheitlich unterdrücken. Diese kollektive Identität hat viele Quellen und viele Funktionen.

Zu den Quellen gehören die ethnischen Merkmale gemeinsamer Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur oder des gemeinsamen Schicksals. Dabei bilden übereinstimmende Vorstellungen von gutem Zusammenleben ein wichtiges kulturelles Merkmal. So war es eine gemeinsame kulturelle Leistung des deutschen Volkes, sich ein Grundgesetz zu geben, das die Rechte der Person so umfassend schützt und demokratisch gefällte Mehrheitsentscheidungen friedlich zu akzeptieren.

Ohne eine gewisse Abgrenzung nach innen und außen kann es keine Selbstbehauptung des kulturell Eigenen geben. Ein Volk würde im Wind der Geschichte verwehen und vergehen.

Das „moderne Verständnis von Nation“ trägt „in sich die Idee kultureller Selbstbehauptung einer sich abgrenzenden Gruppe. Rings um Sprache und erlebtes, historisch erinnertes Schicksal, rings um gemeinsame Werte und Sitten, rings um einen Kanon der Weltinterpretation, von Würde, Anstand und Alltagsvernunft wächst die Idee der Nation. Jede Nation ist auch eine bloß geistige Konstruktion, eine paradoxe Erfindung von sich selbst, in Bildern, Fahnen, Hymnen und großen Erzählungen zum Gegenstand gemacht und sich in dieser Spiegelung selbst erst erschaffend,“

Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.187.

formulierte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio.

Bekanntlich gibt es global viele andere ethnisch-kulturelle Modelle, die mit unserem Menschenrechtsverständnis unvereinbar wären, weil sie dem Kollektiv oder einer religiösen Doktrin grundsätzlich den Vorrang vor den Rechten der Person einräumen. In eine Demokratie läßt sich aber nur integrieren, wer bereit ist, als Abstimmungsminderheit den inneren Frieden zu wahren. Wer unsere Töchter unbedingt unter Kopftücher zwingen will und so ihre Menschenwürde mißachtet, hat ein prinzipiell anderes ethnokulturelles Vorverständnis als wir: Er weist, verglichen mit uns, entscheidende Merkmale der ethnokulturellen Gleichheit nicht auf. Viele lassen sich integrieren. Integration ist nicht nur eine indviduelle Aufgabe, sondern kraft Gesetzesauftrags im Aufenthaltsgesetz auch eine staatliche.

Um die Integration zu fördern, darf das Recht

„eine bestimmte Form der kollektiven Identität vorschreiben und so Ziele der System- und Sozialintegration vorgeben. Dies macht das Recht etwa durch die in den Grund- und Menschenrechten zum Ausdruck kommenden Werte, die grundlegenden Verfassungsprinzipien wie das Demokratie-, Sozial- oder Rechtsstaatsprinzip oder die im Staatsangehörig-keitsrecht enthaltenen Regelungen über die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft.“

Eichenhofer, Johannes u.a., Mehr Integration und Teilhabe, Gutachten, Hrg. Dietmar Molthagen für die Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017, S.3.

Eichenhofer, Johannes u.a., Mehr Integration und Teilhabe, Gutachten, Hrg. Dietmar Molthagen für die Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017, S.3.

Damit hat der hier für die SPD arbeitende Verfassungsrechtler Eichenhofer zugleich die multiple Funktionalität unserer kollektiven Identität („Ziele“) beschrieben. Daß unser Gesetz „bestimmte Formen der kollektiven Identität vorschreiben“ darf und dies mit den Mitteln des Staatsangehörigkeitsrechts in die Tat umsetzt, verkennt völlig, wer in begründeten Sorgen um unsere „ethnokulturelle Identität“ ein verfassungsfeindliches Verhalten sieht, das der Verfassungsschutz beobachten dürfe.

“Der Einwand, eine kollektive Kulturprägung sei im Gegensatz zu konkreter individueller Grundrechtsbetroffenheit nicht auszumachen, ist unzutreffend. Die kollektive Erscheinungsform wird notwendigerweise anders zum Ausdruck gebracht, nämlich in der Rechtsstruktur und ihrem Gewährleistungsrahmen, nicht der vereinzelten Grundrechtsnorm, sondern dem System. Es gilt als Allgemeinplatz der Ethnizitätsforschung, daß partikulare Rechtsnormen im Gegensatz zum Glauben an ihren besonderen Gehalt keine fundamental anderen Werte formulieren als in anderen Staaten. Genau hier liegt der entscheidende Punkt: Denn ebenso anerkannt ist, daß die Normen gleichwohl an partikularen Ideen über die Lebensweise orientiert sind, die sich aus gemeinsam gelebten kulturellen Formen ableiten läßt (Sprache, Geschichte, Wirtschaftssystem).”

Ferdinand Weber, Staatsangehörigkeit und Status, 2018, S.409.

Während sich die Merkmale des ethnisch-kulturellen Volksbegriffs also keineswegs auf eine gemeinsame Abstammung reduzieren lassen, sondern viel umfassender und komplexer sind, möchte das VG Berlin ihn allein so verstehen:

Daraus, daß seiner Betätigung ein völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff zugrunde liegt, macht der Antragsteller auch in seiner Antragsschrift keinen Hehl,

VG Berlin B.v.18.6.2020, S.7

Ob das auf die Identitären so zutrifft, läßt sich wiederum am Beschluß des Gerichts nicht ablesen. weil dieser keine Textstellen oder Belege dafür zitiert. Sollten die Identitären tatsächlich aus der nur ethnisch verstandenen deutschen Volkszugehörigkeit ableiten, Deutsche fremder Abstammung rechtlich schlechter zu stellen als andere, wäre das grundgesetzwidrig. Vor dem Gesetz kann nur die rechtliche Staatsangehörigkeit gelten. Grob und für jedermann nachlesbar falsch behauptet aber dann das Verwaltungsgericht:

Das Grundgesetz kennt einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes nicht.

VG Berlin, S.7

Dagegen lautet Artikel 116 Absatz 1 Grundgesetz, noch einmal zum Mitschreiben:

Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.

Die Sozialintegration

Oben hatten wir Johannes Eichendorfer zitiert, der die kollektive Identität für „Ziele der System- und Sozialintegration“ für erforderlich hält. Integration in unsere sozialen Systeme bringt es mit sich, daß ein Eingebürgerter bereit sein muß, mit uns solidarisch zu sein und umgekehrt. Der Staat kann nicht sinnvoll nur als unpersönliche Verteilungsanstalt materieller Güter verstanden werden, sonst würde er keine Opferbereitschaft wecken. Er muß darum, schreibt der Kölner Verfassungsrechtler Otto Depenheuer,

„als personenbezogenes Gebilde gedacht werden, dessen Substrat nur das Volk sein kann. Tatsächlich liegt im Begriff des Volkes der Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach dem materiellen Grund der staatsbürgerlichen Solidarität. Diese findet ihre Grundlage  in der substantiell durch Volkszugehörigkeit, rechtlich durch Staatsangehörigkeit vermittelten Gemeinsamkeit der Staatsbürger.“

Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2016, S.324.

Wenn uns Opferbereitschaft abverlangt wird, kommt es für die Legitimität und Akzeptanz entscheidend auf das wechselseitige Gefühl der Verbundenheit an. Wer uns im Stillen haßt und ablehnt, wer uns für Ungläubige oder Verworfene hält oder auch nur für eine beliebige Party, die man danach wieder verläßt und weiterzieht, wird diese Solidarität nicht aufbringen.

Das Staatsangehörigkeitsrecht und die faktische Regierungsmacht, Massen von Ausländern unkontrolliert nach Deutschland einwandern zu lassen, geben dem Staat faktische Instrumente in die Hand,

„die solidarischen Grundlagen“ seiner eigenen Existenz zu „verändern – etwa durch die politische Entscheidung, ein Einwanderungsland zu werden. Dadurch würde die national geprägte Homogenität auf Dauer untergraben und mit ihr die durch sie vermittelte Solidarität.“

Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2016, S.347.

In welchem Umfang unser Recht jeweils weitergehende Homogenität durch Integration vorschreibt oder Heterogenität durch Zuwanderungen zuläßt, sollte eine Frage demokratischer Mehrheitsentscheidung sein. Insbesondere die Massenzuwanderungen 2015 waren reine Regierungsentscheidungen. Die demokratische Legitimation für solche Entscheidungen ist dünn. Das Volk wird in Deutschland nicht unmittelbar nach seiner Meinung gefragt. Ihm wird wiederum durch die öffentlich-rechtlichen Massenmedien wie dem Fernsehen Tag für Tag erzählt, was es fühlen und denken möge: humanitär und nicht primär gesetzlich. Vor allem soll es sich selbst vergessen und nur noch als Konsumenten oder Kosmopoliten von sich denken.

Die Deutschen werden medial stets bei guter Laune gehalten, obwohl sie sich demographisch von Generaton zu Generation nahezu halbieren. Lücken entstehen freilich nicht, im Gegenteil. Unsere Regierung sorgt in ihrer Weisheit stets dafür, daß sie durch tatkräftige junge Männer aus Übersee gefüllt werden. Diese Ersetzungsmigration und Entnationalisierung untergraben aber die Grundlagen unserer auf solidarischem Zusammenhalt beruhenden Demokratie und unserer Sozialsysteme.