Wir sollen uns allein fühlen

Gemeinsam sind wir stark. Von dieser Einsicht lebt Demokratie. Darum sollen wir uns allein fühlen, vereinzelte Waldgänger. Das ist Methode der uns beherrschenden Funktionseliten. Ihr medialer Sektor erzeugt jederzeit die Illusion, wir seien allein zuhaus: Die Straße aber, die Schulen und Unis, die Regierungen, sie alle gehören ihnen.

Die von Elisabeth Noelle-Neumann wissenschaftlich beschriebene Schweigespirale soll die Mitte der Gesellschaft verstummen lassen. Wer seine Meinung für nicht mehrheitsfähig hält, der behält sie oft für sich. Er hat Angst, anzuecken oder Nachteile zu erleiden.

Es kann jedem passieren: Polizei klopft wegen E-Mails, Posts oder Kommentaren an Türen, man sperrt Bankkonten, kündigt Versicherungen, entfernt Menschen aus der politischen Sphäre, entzieht ihnen im Grunde alle gesellschaftliche Teilhabe. Die Kontrolle unserer Ängste ist aber löchrig. Wenn wir durch die Schlupflöcher ins Freie blicken, sind wir – gerade international – kein bißchen allein. Ein kleines Werkzeug in den Browser geladen, und schon finden wir uns in bester Gesellschaft:

Die Liebesehe zwischen Kulturlinken und dem Finanzkapital

Der englische Romanautor und Essayist  Paul Kingsnorth ist 1971 geboren und war einst „links“. Das kann Jünglingen leicht passieren, bevor das eigenständige Denken anfängt. Heute denkt er nicht mehr in den verstaubten Rechts-Links-Schablonen, in denen  unser politmediales Herrschaftssystem uns gefangen hält. Wie immer mehr Analytiker sieht er den Gegensatz zwischen Globalisten und national Denkenden für entscheidend:

Die Weltanschauung, die der Akademiker Eric Kaufmann Linksmodernismus nennt, ist heute die Sichtweise der professionellen Managerklassen, der oberen 10% der Gesellschaft und – nicht zufällig – der Nutznießerklasse der Globalisierung. Über transnationale Konzerne, den akademischen und kulturellen Sektor, NGOs, globale und regionale Körperschaften und andere Kollektive von normalerweise unerklärlicher Macht verbreitet diese Klasse die dreifache Ideologie des Globalismus innerhalb ihrer eigenen Nationen und darüber hinaus. Unterdessen formiert sich eine nationale populistische Bewegung, die weitgehend um eine Reaktion der Arbeiter und der unteren Mittelklasse auf diese Ideologie herum aufgebaut ist, um Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung, einem gewissen Maß an kulturellem Konservatismus, wirtschaftlichem Schutz und demokratischer Rechenschaftspflicht.

Paul Kingsnorth, Wie die Linke auf den Kapitalismus hereingefallen ist, Progressive waren immer Teil der Unternehmenselite, UnHerd 5.7.2022

Kingsnorth reiht  sich nahtlos ein in die Schar nicht Linker Kritiker des globalistischen Finanzkapitalismus. „Linke und Kapitalisten gelten als spinnefeind. Für alte Linke und Kapitalisten alter Schule hatte das einst wirklich gegolten. Heute schmusen neue Linke mit dem multinationalen Finanzkapital“, hatte ich hier am 16. Mai 2021 geschrieben und “Renovatio” (David Engels et allii) zitiert:

„Globalistische Ideologie stellt eine Synthese von neoliberalen, postmodernen und neomarxistischen Ideologieelementen dar. Diese noch im Entstehen befindliche Ideologie strebt die Gestaltung aller Bereiche des Lebens nach ökonomischen Prinzipien an. Gleichzeitig fordert sie die Auflösung von Grenzen und Bindungen, die als Einschränkungen einer vorwiegend ökonomisch verstandenen Freiheit betrachtet und deshalb abgelehnt werden.“

Giftpflanzen aus derselben Wurzel

Kingsnorth spinnt den Faden seiner Gedanken weiter:

Was wäre, wenn die Ideologie der Konzernwelt und die Ideologie der „progressiven“ Linken keine unerklärliche Vernunftehe geschmiedet hätten, sondern die ganze Zeit aus demselben Wurzelstock gewachsen wären? Was wäre, wenn die Linke und der globale Kapitalismus im Grunde dasselbe sind: Motoren, um gewohnte Lebensweisen zu zerstören und sie durch die globalisierte, universalistische, technologische Matrix zu ersetzen, die derzeit um uns herum entsteht?

Paul Kingsnorth, Wie die Linke auf den Kapitalismus hereingefallen ist, Progressive waren immer Teil der Unternehmenselite, UnHerd 5.7.2022

Diese Matrix hat nichts mehr zu tun mit dem umfassenden Versprechen individueller Freiheit, mit dem der Liberalismus vor über 200 Jahren angetreten war. Wenn zwei gedankliche Züge erst einmal auf der Schiene der Entfremdung und Zerstörung gesellschaftlicher Bindungen und natürlicher Umwelt fahren, gelangen sie notwendigerweise zum selben Zielbahnhof.

Angloamerikaner prägten für das neuartige Amalgam linksalternativer Programmatik und kapitalistischer Erfordernisse den Begriff woke capitalism, wacher Kapitalismus. Er kulminierte in der Emanzipationsbewegung sexueller und rassischer Minderheiten und schleift alle Bastionen herkömmlicher Normalität. Dabei stützt sie sich auf die Methode der Dekonstruktion.

Klaus Kunze, Staatsfeind Liberalismus, 2021, ISBN 978-3-949780-03-5, Kapitel „Der Kapitalismus erwacht“, S.201.

Der frühere Gegensatz linker Ideologie und Kapitalismus hat sich aufgelöst. Heute marschiert man Hand in Hand in eine Schöne Neue Welt.

Progressive Linke und globaler Kapitalismus, weit davon entfernt, antagonistisch zu sein, wie einige von uns einst dachten, haben sich als nützliche Passungen herausgestellt. Beides sind totalisierende, utopische Projekte. Beide sind mißtrauisch gegenüber der Vergangenheit, ungeduldig gegenüber Grenzen und Abgrenzungen und feindselig gegenüber Religion, „Aberglauben“ und den Grenzen, die Natur oder Kultur dem menschlichen Individuum auferlegen. Beide streben nach einer globalen Utopie, in der die Welt in den Träumen von Lenin und Lennon als Einheit leben wird. Wenn uns die letzten 40 Jahre eines gelehrt haben, dann, daß Träume von universeller Gleichheit sehr leicht in Träume von universellem Marktzugang übergehen können. Es gibt einen Grund, warum sowohl Progressive als auch The Economist für offene Grenzen eintreten. Es gibt einen Grund, warum so viele Hippies zu Tech-Milliardären wurden. Wenn Sie sich jemals gefragt haben, welche Art von „Revolution“ von Nike gesponsert, von BP gefördert, von Hollywood und Netflix propagiert und von Facebook und YouTube überwacht wird, dann finden Sie hier die Antwort.

Paul Kingsnorth, Wie die Linke auf den Kapitalismus hereingefallen ist, Progressive waren immer Teil der Unternehmenselite, UnHerd 5.7.2022

Die global agierenden Konzerne sind die neuen Herren dieser schönen Welt, und amorphe Massen spielen die Bausteine ihrer finanziellen Bedürfnisse. Oswald Spengler hatte bereits die Moderne seziert und sah

„Menschenmassen, die wie Dünen aus einer in die andre verweht werden, wie loser Sand zwischen den Steinen verrieseln. Hier feiern Geist und Geld ihre höchsten und letzten Siege.“[1] In der neuen Ideologie verschmelzen moderner Dekonstruktivismus, gesellschaftlicher Egalitarismus, antirassistische Identitätspolitik und  globalistischer Humanitarismus mit den Lebensinteressen des Finanzkapitals. Es hat die emanzipatorischen Motive, Ideologeme und Symbole gekapert und sich einverleibt. Sie passen gut zu ihm. Ein kennzeichnendes Ideologem ist das englische Wort woke. Es bedeutet ideologisch wachsam, das heißt penibel in der rigiden Durchsetzung der neuen Ideologie.

Klaus Kunze, Staatsfeind Liberalismus, 2021, ISBN 978-3-949780-03-5, Kapitel „Der Kapitalismus erwacht“, S.202.

Vom Menschen zum hirnlosen Verbraucher

Alle hatten sie die Menschen aus Abhängigkeiten befreien wollen: Der Liberalismus von staatlicher Reglementierung und der Marxismus von unternehmerischer Ausbeutung. Durch die Verstaatlichung der „Ausbeutung“ hatte sich freilich keine größere Freiheit erringen lassen.

Schutz nach Innen und außen und die Garantie demokratischer Verfahrensweisen sind nach unserer Lesart die wichtigsten Staatsaufgaben. Nach weitgehender Schleifung dieser originär staatlichen Funktionen haben sozialistisch inspirierte Linke den Reststaat zu einer finanziellen Umverteilungsanstalt herabgestuft. In allen anderen Aufgaben versagt er. Aus liberaler Sicht ist dieses Versagen freilich höchst erwünscht, denn je weniger Staat, desto mehr Ellenbogenfreiheit hat der Finanzglobalismus. Und die früheren Linken spielen jubelnd die Rolle seiner nützlichen Idioten:

Im stürmischen Zusammenbruch der 2020er-Jahre sind die progressive Linke und der Unternehmenskapitalismus nicht so sehr verschmolzen, sondern als das entlarvt worden, was sie schon immer waren: Varianten desselben modernen Ideals, die um das Streben nach grenzenloser Selbsterschaffung in einer postnatürlichen Welt herum aufgebaut sind. Der kanadische „Red Tory“-Philosoph George Grant hat einmal festgestellt: „Die Direktoren von General Motors und die Anhänger von Professor Marcuse segeln in verschiedenen Booten denselben Fluß hinab.“ Heutzutage haben sie ihre getrennten Schiffe verlassen und segeln gemeinsam in einer Superyacht flußabwärts, während der Rest von uns gafft oder Steine ​​von den Ufern wirft.

Paul Kingsnorth, Wie die Linke auf den Kapitalismus hereingefallen ist, Progressive waren immer Teil der Unternehmenselite, UnHerd 5.7.2022

So dekonstruieren Linke heute fröhlich den Staat, das Volk, die Institutionen, die Kultur, die Geschichte, die Moral und am Schluß womöglich sich selbst. Wenn „Volk“ und „Frau“ bloß Konstrukte sind – was ist dann „Mensch“ besseres als ein hirnloser Verbraucher?

Wenn die Kultur so leer, so zwecklos, so entwurzelt ist, daß sie verlernt hat, etwas anderes zu tun, als sich selbst zu dekonstruieren? Genauer gesagt: Was passiert, wenn Gleichmacherei nicht der Instinkt der Armen, sondern der Macht ist? Was passiert, wenn die Zerstörung von Grenzen, Begrenzungen und Grenzen der großen Technologie, dem großen Geld und denen zugute kommt, die aus ihrem Wasserhahn trinken, und nicht den kleinen Stimmen, die auf den Feldern dürsten? Und was passiert, wenn das große Geld die Sprache der kleinen Stimmen – die Sprache des Nivellierens – verwendet, um seine Arbeit in hübsche Schleifen zu binden? Hier sind wir. Die postmoderne Linke, die so viele Höhen der westlichen Kultur erobert hat, ist keine radikale Bedrohung für das Establishment: Sie ist das Establishment. Progressive Linke ist Marktliberalismus mit anderen Mitteln. Die Linke und der Konzernkapitalismus funktionieren jetzt wie eine Zange: Man greift die Kultur an und dekonstruiert alles von der Geschichte über die „Heteronormativität“ bis hin zu nationalen Identitäten; der andere zieht ein, um die resultierenden Fragmente zu monetarisieren.

Paul Kingsnorth, Wie die Linke auf den Kapitalismus hereingefallen ist, Progressive waren immer Teil der Unternehmenselite, UnHerd 5.7.2022

Verortung

Auf der anderen Seite benutzen die mit den Kulturlinken verschmolzenen Liberalen gern die „verfaulenden Reste“ der Staatsmacht [Heinrich Böll], um uns zu lenken und umzusteuern:

Aber gerade im Erfolg des Liberalismus lag die Saat seines Scheiterns. Das Projekt, das Individuum von seinen Loyalitäts-, Orts-, Familien- und Kulturnetzwerken zu befreien und die gewaltige destabilisierende Maschine des Kapitalismus freizusetzen, schuf eine soziale Instabilität, die nur von der letzten noch bestehenden Institution kontrolliert oder gelenkt werden konnte: dem Staat. Eine Ideologie, die auf dem Schutz und der Förderung der Freiheit des Einzelnen basiert, führte zu der Ära beispielloser Staatsmacht, in der wir heute leben. Regierungen beanspruchen jetzt das Recht, unsere Sprachmuster zu steuern, unser Leben und unsere Geschäfte in immer radikalerem Maße zu regulieren, ganze Gesellschaften im Namen der „öffentlichen Gesundheit“ lahmzulegen und sogar Gesetze für akzeptable und inakzeptable Einstellungen und Meinungen zu erlassen.

Paul Kingsnorth, Die liberale Ordnung ist bereits tot, UnHerd 17.2.2022

Kritik an der industriellen, massendemokratischen Moderne war traditionell konservativ. Weil es heute am Buffett sonst nur linken Einheitsbrei gibt, dürfte sie heute als rechts gelten, wenn eine solche Einteilung irgendwie noch wichtig wäre.

Ist sich im Wald zu verstecken des “Waldgängers” Lust?

Unsere Überlegungen haben aber gezeigt, daß die heutigen Linken nicht mehr links in dem Sinne sind, in dem man das früher verstand. Und die Rechten haben nichts gemein mit dem Feindbild von „Rechten“, gegen das unser Staat Milliarden an Propagandamitteln verpraßt.

Paul Kingsworth betont den Gedanken der Rückkehr, der Zuwendung zum Bewährten:

Es ist eine Tradition, die wir reaktionären Radikalismus nennen könnten: Widerstand gegen die totalisierende Kraft der Maschine aus einer Perspektive, die in den drei P‘s verwurzelt ist: [orig.: people, place and prayer) Menschen, Ort und Gebet. Weder links noch rechts noch anderswo, es ist eine Tradition, die alle modernen Gräben überwindet, weil sie älter ist als alle anderen. Es geht der Sache buchstäblich auf den Grund. Es ist der Traum einer lokalisierten, populistischen Opposition gegen die gigantische, zerstörerische Moderne in all ihren Formen.

Paul Kingsnorth, Wie die Linke auf den Kapitalismus hereingefallen ist, Progressive waren immer Teil der Unternehmenselite, UnHerd 5.7.2022

In dieser Opposition, diesem Widerstand sind wir alle Kombattanten. Heraus aus Euren  Wäldern, Ihr schweigenden Waldgänger!


[1] Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S.1322.

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