Sterben für Uigur?
„Sterben für Danzig? fragten französische Zeitungen 1939 skeptisch, als das Deutsche Reich sich die alte Stadt Danzig wieder angliederte. Durch das Versailler Diktat war sie ihrem Mutterland gegen den Willen seiner Bewohner entrissen worden.
Sterben für Uigur? Manche deutschen Fundamentalisten würden das offenbar in Kauf nehmen. Der Grüne Bütikofer und A. Baerbock werden nicht müde, vom Reich der Mitte „Einhaltung der Menschenrechte“ zu fordern, oder jedenfalls, was die Grünen darunter verstehen.
Nach neuen Enthüllungen über Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Uiguren hat Außenministerin Annalena Baerbock von Peking transparente Aufklärung verlangt. Der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer forderte im Dlf, wirtschaftliche Interessen klar zu reduzieren. Deutsche Firmen wie BASF oder VW sollten sich aus China zurückziehen.
Deutschlandfunk 25.5.2022
Wie ein Wirtschaftskrieg sich für uns einfache Bürger anfühlt, weiß inzwischen jeder, und solche Kriege sind nur zu häufig Vorboten eines militärischen Konflikts. Die Lasten solcher Konflikte tragen freilich Figuren wie Bütikofer und Baerbock nicht persönlich. Marschieren dürfen dann andere. Das ist im 21. Jahrhundert nicht anders im 11., als Papst Urban 1095 die Christen zur Eroberung Jerusalems aufrief, denn: „Gott will es!“
Auch heute sind es ideologische Imperative, die westliche Aufbruchsstimmung erzeugen sollen: „Die Moral“, „die Menschenrechte“, und „die Freiheit“ sollen global allen Menschen dargebracht werden, ob sie diese nun wollen oder nicht. Diese Menschenrechte sind als Individualrechte konzipiert. Aus Sicht ihrer Prinzipien gibt es eigentlich nur Individuen:
Das Diktat des Individualismus
Grundwert des „westlichen“, das heißt des amerikanischen, Liberalismus ist ein radikaler Individualismus. Sein Gegenbild war in Deutschland bis 1945 ein ebenso radikaler Kollektivismus. Dieser hatte gefordert: „Du bis nichts, dein Volk ist alles.“ Jener hingegen bestreitet in letzter Konsequenz, daß es Völker überhaupt gibt. Max Stirner hatte 1844 in seinem Buch „Der Einzige und sein Eigentum“ unnachahmlich formuliert: „Mir geht nichts über mich!“
Der vor 200 Jahren noch gemäßigte Liberalismus hat sich inzwischen radikalisiert und gipfelt, philosophisch, in „konstruktivistischen“ Theorien. Diese treiben den methodologischen Individualismus auf die Spitze. Sie kennen keine natürlichen Gemeinschaften wie Familien und Völker mehr. Es gebe nur Gesellschaften, alle konstruiert aus Einzelmenschen, aus Individuen, die wie Atome oder Legosteine alle gleichartig und darum beliebig wiederververwendbar seien.
So steht der kollektivistischen Hypertrophie des Gemeinschaftlichen eine Hypertrophie des Individualistischen gegenüber. Diese besagt, verfassungsrechtlich formuliert: Ncht der Einzelne ist für den Staat da, also für die Gemeinschaft, sondern immer nur die Gemeinschaft in Gestalt des Staates für den Einzelnen. Beide Extreme ignorieren, daß alle Menschen geborene Gemeinschaftswesen und Individuen zugleich sind. Beide Extreme hatten und haben ihre jeweiligen Prinzipienreiter: Kollektivisten auf der einen Seite ebenso wie kleine Anarchisten auf der anderen – denn der Anarchist treibt die Feindseligkeit gegen alles Gemeinschaftliche am weitesten.
Die geborenen Kollektivisten
Eine Grunddoktrin des methodologischen Individualismus lautet heute: Alle Menschen sind gleich. Das müssen sie sein, denn nur mit einander gleichen Bausteinen kann man jede beliebige neue Gesellschaft konstruieren. Die moderne Genetik dagegen findet immer mehr genetische Unterschiedlichkeiten nicht nur zwischen Individuen, sondern vor allem auch zwischen Menschengruppen.
Diese Unterschiede betreffen nicht nur Oberflächliches wie die Hautfarbe. Auch tief drinnen in unserem emotionalen Erleben unterscheiden wir uns. Die Pointe: Ein gewisses Maß an Kollektivismus ist erblich:
Die chinesischen Forscher Siyang Luo und Shihui Han haben beim Vergleich von 12 westlichen und ostasiatischen Ländern eine hohe (geographische) Korrelation (r=0,94) des A-Allels zum Kollektivismus gefunden. Die kollektivistischen Länder in Ostasien haben mehr A und weniger G als die westlichen.[1]
Andreas Vonderach, Völkerpsychologie, 3.Aufl. 2021, S.416.
Die genetischen Feinheiten sind auch detailliert nachzulesen in einer Studie von Joan Y. Chiao und Katherine D. Blizinsky:
Die koevolutionäre Kultur-Gen-Theorie geht davon aus, dass sich kulturelle Werte entwickelt haben, anpassungsfähig sind und die sozialen und physischen Umgebungen beeinflussen, in denen die genetische Selektion stattfindet. Hier untersuchten wir den Zusammenhang zwischen kulturellen Werten des Individualismus-Kollektivismus und der Allelfrequenz des Serotonin-Transporter-Funktionspolymorphismus (5-HTTLPR) sowie die Rolle, die diese Kultur-Gen-Assoziation bei der Erklärung der globalen Variabilität in der Prävalenz von Krankheitserregern und affektiven Störungen spielen könnte . Wir fanden Hinweise darauf, daß kollektivistische Kulturen in 29 Nationen mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit Individuen umfassten, die das kurze (S) Allel des 5-HTTLPR trugen. Die Ergebnisse zeigen ferner, daß die historische Pathogenprävalenz aufgrund der genetischen Selektion des S-Allels kulturelle Variabilität im Individualismus-Kollektivismus vorhersagt.
Joan Y. Chiao und Katherine D. Blizinsky, Kultur-Gen-Koevolution von Individualismus-Kollektivismus und das Serotonin-Transporter-Gen, 28. Oktober 2009. https://doi.org/10.1098/rspb.2009.1650
Im Rahmen unserer Verfassungsordnung wird jeder Ansatz von Kollektivismus amtlich sofort mit dem Stempel „verfassungsfeindlich“ gebrandmarkt. Nimmt man unser gesetztes Verfassungsrecht als Maßstab, wäre in der Tat jede Forderung nach einem kollektivistischen Verfassungssystem mit unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Bei uns heiligt man das Individuum mit allerlei metaphysischen Beschwörungen wie der Menschenwürde, die doch angeblich „vorstaatlich“ sei, jedem Menschen angeboren, darum universell und die natürlich absolute Geltung beanspruche.
Ausgangspunkt und wesentlicher Bestandteil der Menschenwürdedoktrin ist der methodologische Individualismus. Ihm zufolge existieren prinzipiell nur Individuen und keine Gemeinschaften. Und weil auch moralischer Adel verpflichtet, sollen wir dahingehen und diesen Individualismus allen Menschen bringen und sie lehren und gläubig machen: Kollektives Bewußtsein ist blasphemisch, das geht gar nicht!
Die bis an die Zähne bewaffneten Kollektivisten
Leider stoßen unser moralisches Sendungsbewußtsein und der fromme Wunsch, an unserem individualistischen Wesen solle die ganze Welt genesen, nicht überall auf freudige Zustimmung. Da gibt es zum Beispiel in Asien die eine oder andere Macht, bis an die Zähne bewaffnet und sicherlich beherscht davon, was man schon Ende des 18. Jahrhunderts als „asiatische Despotie“ verabscheute: Alles hört auf das Kommando eines Einen, und alle kuschen brav und im Kollektiv.
Igitt! Mir wäre so etwas zutiefst zuwider.
Ja, für meine persönliche Freiheit und die meines Volkes würde ich zur Not in den Krieg ziehen. Ich kann als Individuum nicht freier sein als mein Volk, dem ich angehöre. Aber sterben für abstrakte Prinzipien? Sterben für „die Menschenrechte“? Sterben für Uiguren?
Sollen wir mit jedem auf Kriegsfuß stehen, der unsere Menschenrechtsmoral nicht teilt? Müssen wir die ganze Welt bekehren? Einer der besten Kenner Chinas ist der amerikanische Erzkapitalist Ray Dalio, einundsiebzigreichster Mann der Welt und Inhaber des größten Hedgefonds Bridgewater. Er warnt in seinem Buch „Weltordnung im Wandel“:
Meiner Ansicht nach ist unbedingt zu begreifen und zu akzeptieren, daß Chinesen und Amerikaner unterschiedliche Wertvorstellungen haben und sich anders entscheiden, als es dem anderen gefällt. So mag weder den Amerikanern noch den Chinesen zusagen, wie die jeweils andere Seite in Menschenrechtsfragen verfährt. Stellt sich die Frage, was in diesem Fall zu tun ist: Sollten die Amerikaner gegen die Chinesen in den Krieg ziehen, um sie zu zwingen, so zu handeln, wie sie es für richtig halten und umgekehrt?
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, englische Ausgabe 2021, deutsch 2022, S.556.
Eine solche Apokalypse möchte ich mir lieber gar nicht vorstellen. Aber einen kleinen, grünen deutschen Kläffer, der sich frech hinter dem Nuklearschirm des großen Bruders versteckt und das Milliardenvolk der Chinesen mit moralisch wedelndem Schwanz ankläfft, was die gefälligst zu tun hätten, den kann ich mir gut vorstellen. Ich sehe es, wenn ich mich „in die erste Reihe setze“, im Staatsfernsehen.
Bei einer gewissen Wählerklientel mit moralisch halbierter Vernunft und wenig Weltkenntnis feiern solche Kläffer aber offenbar kleine Wahlerfolge.
Legitim oder dysfunktional?
Ray Dalio, mein kapitalistischer Gewährsmann in Sachen China, verabscheut Krieg, weil er immer mehr zerstört, als selbst die Sieger zu gewinnen haben. Er widmet dem Aufstieg der neuen Weltmacht große Kapitel und erklärt uns die Unterschiede der chinesischem Mentalität zur amerikanischen, zu der wir uns ja willig haben erziehen lassen.
All diese chinesischen Systeme sind hierarchisch und nicht egalitär. Wang Qishan, chinesischer Vizepräsident und herausragender Historiker und Kulturforscher, erklärte mir den wesentlichen Unterschied zwischen Amerikanern und Chinesen folgendermaßen: Den Amerikanern gehe das Individuum über alles, den Chinesen die Familie und das Kollektiv. Amerika wird nach dem Bottom-up-Prinzip geführt (also demokratisch) und mit Blick auf den Einzelnen optimiert. China wird nach dem Top-down-Prinzip geführt und mit Blick auf das Kollektiv optimiert.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, englische Ausgabe 2021, deutsch 2022, S.470.
Dalio plädiert für friedliche Koexistenz, für welche aber
die Amerikaner eines begreifen müssen: Für die Chinesen sind ihre Werte und ihre Wege, diese Werte zu leben, das Nonplusultra – nicht anders als deren Werte und Way of Life für die Amerikaner. So sollte man zum Beispiel akzeptieren, wenn Spitzenpolitiker von fähigen, weisen Leitfiguren berufen werden, statt die Wahl nach dem Moto ‚Jedem Bürger eine Stimme‘ der breiten Bevölkerung zu überlassen, weil sie überzeugt sind, daß die breite Bevölkerung nicht so gut informiert und auch nicht so qualifiziert ist. Die meisten meinen, daß die breite Masse nach Laune wählt und danach, was die Kandidaten den Wählern für ihre Unterstützung versprechen – nicht danach, was für sie das Beste ist. Ebenso glauben sie – wie schon Plato, und wie es in etlichen Ländern vorgemacht wurde – daß Demokratien in schlechten Zeiten schnell zu dysfunktionalen Anarchien verkommen, wenn die Menschen darüber streiten, was zu tun sei, statt sich hinter einen starken, fähigen Staatslenker zu stellen.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, englische Ausgabe 2021, deutsch 2022, S.552.
Lange habe ich mit mir gerungen, ihnen diese schrecklichen chinesischen Vorurteile gegen unsere, nach Churchill, am wenigsten schlechte, Regierungsform überhaupt mitzuteilen. Sie könnten in Ihrer demokratischen Stabilität erschüttert werden. Aber im Vertrauen auf Ihren unerschütterlichen Glauben, an unsere Demokratie, meine lieben Leser, habe ich es dennoch gewagt. Immerhin wissen Sie, daß die fachliche Kompetenz eines in China von oben als Minister eingesetzten Wirtschaftsfachmannes nichts gilt gegenüber der moralischen Erhabenheit einer grünen Küchenhilfe im Epizentrum der Macht, ja selbst einer bloßen Biotonne, wenn sie nur mit dem richtigen kritischen Bewußtsein angefüllt wird.
Wie verblendet sind doch dagegen der steinreiche Amerikaner Ray Dalio und die Chinesen, die gar nicht begreifen, warum die Amerikaner
die Problematik demokratischer Entscheidungsprozesse nicht ebenso klar erkennen, wie es die Chinesen tun.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, englische Ausgabe 2021, deutsch 2022, S.553.
Ein Spielverderber, wer hier einwürfe, die Fähigkeit des staatlichen Führungspersonals sei doch nichts gegenüber der Erhabenheit unserer demokratischen Entscheidungsprozesse. Ein finsterer Delegitimierer würde gar darauf verweisen, Staatsmänner wie Bismarck seien auch „von oben eingesetzt“ worden, vom König nämlich, und damals sei es mit Deutschland noch aufwärts gegangen so wie mit China heute. Allein schon der bloße Vergleich von bösen Monarchisten wie Bismarck mit demokratischen Ehrenmännern wie Scholz könnte den gewünschten Glauben destabilisieren und Wähler verunsichern.
Doch sollten wir wirklich für unseren Glauben in den Krieg ziehen, um die ganze Welt gläubig zu machen? Für Dalio läuft die Angelegenheit entweder darauf hinaus,
das Recht des anderen, zu tun, was er für richtig hält, zu akzeptieren, zu tolerieren oder gar zu respektieren, oder darauf, daß Chinesen und Amerikaner auf Leben und oder darum kämpfen müssen, was sie für alternativlos halten.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, englische Ausgabe 2021, deutsch 2022, S.553.
Die multikulturelle Welt
Fragen wir in unserer Ratlosigkeit doch unsere multikulturellen Freunde um Rat. Wünschen sie sich nicht eine friedliche Welt aller Kulturen, ganz ähnlich den niedlichen Bildchen auf den Schriften der Zeugen Jehovas, in der Kinder auf Blumenwiesen mit vegan rülpsenden Löwen und blökenden Lämmern spielen? Wäre das nicht eine schöne neue Welt auch für uns?
Gegen friedliche Harmonie ist gewiß nichts einzuwenden. Doch werden wir sie in einer Welt geifernder Fanatiker finden, die sich global überall mit ihrer frohen Botschaft einmischen? Sie ziehen als moralische Wanderprediger um die Welt, segnen hier, verdammen da, drohen dort. Heute wettern sie mit Sanktionen im Gepäck, morgen mit Raketen – vielleicht, weil ihre letzten realen Patronen gerade in der Ukraine verschossen werden.
Oder finden wir eine multikulturelle Welt doch eher, wo jedes Volk für sich nach seinen eigenen ethnischen und kulturellen Traditionen und Ideen leben darf? Wenn diese gar genetisch prädisponiert sind wie im Fall der zu Kollektivismen neigenden Ostasiaten: Wer gäbe uns das Recht, moralische Verdammungsurteile über sie zu fällen, weil das Wort „Menschenrechte“ sie nicht in Begeisterungstaumel versetzt? Vielleicht machen sie sich von der aus christlich-abendländischer Tradition erwachsenen „Menschenwürde“ gar keine Vorstellung, weil diese ein säkularisiertes Überbleibsel der dem Christengott zugesprochenen „Würde“ ist, an der wir „gottesebenbildlichen“ Sterblichen teilhaben?
Und verböte nicht ihre Menschenwürde, den Chinesen ein radikal individualistisches Menschenrechtskonzept aufzuzwingen, wenn sie doch aus tiefstem Herzen und den Untiefen ihrer Gene Kollektivisten sind?
Als biederer deutscher Michel denke ich mir – ganz im Stillen, damit die Obrigkeit es nicht hört -, es möge doch jedes Volk nach seiner eigenen Facon selig werden. Sie mögen uns doch alle in Ruhe lassen und wir sie mit unserem Moralisieren.
[1] Siang Luo, Shihui Han: The association between an oxytocin receptor gene polymorphism and cultural orientations, in: Culture and Brain 2 2014, S.89-107.
Uwe Lay
Zur Erinnerung: Die ersten Kriege im Namen der Menschenrechte führte England gegen China, der sog. Opiumkrieg, als sich die damalige chinesische Regierung weigerte, unlimitiert den englischen Rauschgiftimport zu erlauben. Auf der ganzen Welt uneingeschränkt gewinnbringende Geschäfte machen zu dürfen, ist die Substanz der Menschenrechtsideologie. Staaten, die das nicht gänzlich gewähren, sind dann also „Schurkenstaaten“, gegen die evtl auch Krieg geführt werden darf, aber zumindest ein Wirtschaftskrieg, wie ihn jetzt die Grünenaußenministerin plant.