Wird der Niedergang der USA unser Deutschland mit in den Abgrund reißen? Wen diese Fragestellung erstaunt, sollte sich mit der Analyse eines führenden Kapitalisten vertraut machen: Ray Dalio rangiert auf der Liste der reichsten Leute auf Platz 71 und besitzt den größten Hedgefond.
Er hat keinen Zweifel: Die USA sinken ab, und China steigt auf:
Seine aufschlußreiche Analyse betrifft die deutschen Verhältnisse unmittelbar mit und gehört zu den Büchern, die man gelesen haben muß.
Wer den globalen Finanzkapitalismus nicht mag, sollte ihm in die Karten gucken. Dalio ist einer der ganz großen Mitspieler und kennt eine große Zahl namhafter Staatslenker persönlich. Er nimmt die Vogelperspektive ein und hat die Wirtschaftsgeschichte der letzten Jahrhunderte intensiv studiert.
Alles dreht sich aus Dalios Sicht um das Geld, denn Kaufkraft bedeutet immer Wohlstand und Macht zugleich. Seine Haupthypothese: Alle Länder machen Zyklen des Aufstiegs und des Niedergangs durch und sind grundsätzlich denselben „zeitlosen, universellen Kausalzusammenhängen“ (Dalio S.191) unterworfen: Zum Höhepunkt der Macht führen Führungsstärke, Bildung, starke Kultur und Innovationsfähigkeit. Sehr wenige werden enorm reich, was zu sozialen Spannungen führen wird. Nachfolgenden Generationen geht es noch gut, die Produktivität sinkt aber, weil sie nicht mehr so fleißig sind wie ihre Eltern.
Werden die Menschen in dem führenden Land reicher, arbeiten sie in aller Regel nicht mehr so hart. Sie gönnen sich mehr Freizeit, widmen sich den schöneren, weniger produktiven Dingen des Lebens und werden im Extremfall dekadent. Während des Aufstiegs an die Spitze verändern sich die Werte von Generation zu Generation – von denjenigen, die um Wohlstand und Macht kämpfen mußten, zu denjenigen, die sie ererbt haben. Die neue Generation ist nicht mehr so kampferprobt, dafür von Luxus verwöhnt und verweichlicht.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, Vom Aufstieg und Fall von Nationen, 2022, S.67.
Ihre Wünsche und Forderungen werden immer größer und werden durch Kreditaufnahmen erfüllt. Der Staat verschuldet sich, gibt aber immer weniger für Investitionen und mehr für unproduktive Umverteilung von den Reichen zu den Armen aus. Erzwingen Kriege immer höhere Militärausgaben, steigen die Schulden irgendwann in einen kritischen Bereich: Sie bestehen in dem Versprechen, eine Geldschuld irgendwann zu erfüllen, und bilden eine Finanzblase.
Unweigerlich beginnt das Land, exzessiv Kredit aufzunehmen, was dazu führt, daß seine Verbindlichkeiten bei ausländischen Kreditgebern enorm anschwellen. […] Wird viel Kredit aufgenommen, wirkt das Land sehr stark, doch in Wirklichkeit wird seine Finanzkraft geschwächt, weil die Macht des Landes auf Pump aufrechterhalten wird, obwohl dies fundamental nicht mehr gerechtfertigt ist. Mit den Fremdmitteln werden sowohl der übermäßige Konsum im eigenen Land finanziert als auch die internationalen militärischen Konflikte.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, Vom Aufstieg und Fall von Nationen, 2022, S.68.
Während die Bevölkerung am Anfang jedes Zyklus gleich arm ist, klaffen die Unterschiede zwischen Arm und Reich und verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen immer weiter auseinander. Die Konjunktur schwächt sich ab, und vor der Wahl zwischen Staatsbankrott und dem Anwerfen der Druckerpresse entschließen sich Regierungen fast immer dazu, jede Menge neues Geld zu drucken. „Dadurch verliert die Währung an Wert, und die Inflation zieht an.“ (S.69 f.). Die Konflikte führen, meint Dalio,
zu politischem Extremismus, der sich als linker und rechter Populismus niederschlägt. Die Linken wollen den Reichtum umverteilen, die Rechten dafür sorgen, daß er in den Händen der Reichen bleibt. Dabei handelt es sich um die ‚antikapitalistische Phase‘, in der die Probleme dem Kapitalismus, den Kapitalisten und generell den Eliten angelastet werden.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, Vom Aufstieg und Fall von Nationen, 2022, S.70.
Der unweigerliche Zusammenbruch der Währung führt am Ende des Zyklus zu einem völligen Verlust aller Geldvermögen, Chaos, Bürgerkrieg und einem Neubeginn. Damit sieht der typisierte Zyklus so aus:
Dalio schätzt, daß die USA etwa 70% ihres Zyklus durchlaufen haben. Die Grenze zur Phase “des Bürgerkrieges oder der Revolution, in der zu den Waffen gegriffen wird, ist noch nicht überschriten, doch die innenpolitischen Konflikte sind gewaltig und nehmen zu.” (S.443).
Und Deutschland?
„Weil sich das Wesen der Menschen mit der Zeit wenig verändert“ (S.52), wiederholt sich, schreibt Dalio, „der innenpolitische Zyklus von Ordnung und Chaos“ (S.25) gesetzmäßig überall und immer wieder. Diese Hypothese hat er auf 668 Seiten mit einer Fülle von Daten empirisch zu belegen versucht. Die Epoche der Neuzeit begann unter anderem mit der Erfindung von doppelter Buchführung und des Finanzkapitalismus. Dalios Analysen lesen sich schlüssig. Was bedeuten sie für uns?
Deutschlands “Wohlstand und Macht” – das nennt Dalio oft in einem Atemzug – folgte von ihm aufgezeigten Gesetzmäßigkeiten. Im 20. Jahrhundert kam es nach verlorenen Kriegen am Ende eines Verschuldungszyklus zweimal zu einem finanzpolitischen Neubeginn. Die bestimmenden Faktoren für unseren Wiederaufstieg nach 1945 eignen sich exemplarisch dazu, Dalios Hypothese zu erhärten. Wir befinden uns, wie die USA, auf dem absteigenden Ast unseres Zyklus. Solche Zyklen währen, Dalio zufolge, gewöhnlich um die 100 Jahre. Das Ende der bestehenden Verhältnisse naht mit Ansage.
Die USA steigen ab. Und wir als seine Satelliten? Das Ende wird umso eher eintreten, je mehr unsere Regierungen die Niedergangsfaktoren beschleunigen.
Anstelle von Führungsstärke sind Kohl’sches und Merkel’sches Aussitzen von Problemen und Scholz’sches Zaudern getreten. Erfindungsreichtum wird immer weniger belohnt. An die Stelle fächerübergreifender Bildung ist ein System getreten, das Leistungsspitzen sabotiert, die historische Bildung gegen null senkt, Indoktrinierung wie durch Gendern erzwingt und oft nur durch wertlose Abschlüsse den Eindruck allgemeinerer Bildung vortäuscht. Was heute ein Abiturient weiß, wußte vor 40 Jahren ein Realschüler schon lange. Selbständiges Denken und kritisches Hinterfragen werden durch ideologische Überwachung unterdrückt statt gefördert.
Die „starke Kultur“, eines der von Dalio betonten Aufstiegsmerkmale eines Landes, wurde durch ein lächerliches Sammelsurium modischen Schnickschnacks ersetzt. In das kulturelle Vakuum dringen mit unserer Kultur unvereinbare Sitten und Bräuche fremder Völker ein.
Typisch für Niedergangsphasen ist unsere wieder enorm steigende Staatsverschuldung, die kein Mensch mehr abbezahlen kann. In der Coronazeit die Produktivität durch Verbote abzudrosseln, gleichzeitig Milliarden an die schuldlos bedürftig Gewordenen auszuschütten und dazu exorbitante Summen an neuen Schulden aufzunehmen, brachte uns dem Kollaps näher. Unser Wirtschaftskrieg gegen Rußland in Kombination mit Rüstungsausgaben droht erneut unsere Realwirschaft in den Ruin zu treiben und große Menschengruppen an den Bettelstab. Um den drohenden sozialen Unruhen zuvorzukommen, werden aufs neue nicht rückzahlbare Geldmengen produziert. Der nominellen Geldmenge steht keine ausreichende Menge realer Güter und Dienstleistungen gegenüber, die man dafür kaufen könnte. Das Geld wird immer weniger wert.
Die inneren Verteilungskonflikte um die ohnehin vorhandenen Bruchlinien unserer gespaltenen Gesellschaft erhöhen das ideologische Konfliktpotential. Geistig ist der Bürgerkrieg bereits in vollem Gange. Die Reste der Nachkriegsgeneration halten noch Restbestände an Leistungsorientierung und unsere traditionellen Wertvorstellungen aufrecht. Spätestens wenn sie weggestorben sein werden, wird der Anteil der nicht deutschen Bevölkerung und damit der Anteil an Menschen überwiegen, die keine der zu einem Wiederaufstieg führenden Merkmale aufweisen. Kurz: Der ganze Laden wird unseren Kindern um die Ohren fliegen.
Geschichtsphilosophie oder datenbasierte Analyse?
Dalios Analysen unterscheiden sich von Geschichtsphilosophien wie der Marx’schen durch ihre datengestützte Vorgehensweise. Er verheißt nicht, sondern sucht bleibende Gesetzmäßigkeiten, forscht nach dem, was immer gilt. Das ist eine konservative Grundposition. Mit klarem Blick durchschaut er auch soziologische Gesetzmäßigkeiten:
Ebenso erkannte ich, daß seit jeder und in allen Ländern diejenigen Menschen Wohlstand besitzen, denen die Mittel gehören, ihn hervorzubringen. Um ihren Wohlstand zu wahren oder zu vergrößern, arbeiten sie mit denjenigen zusammen, die über die politische Macht verfügen, um Regeln zu erlassen und durchzusetzen, und stehen in einer symbiotischen Beziehung zu ihnen. Wie mir klar wurde, hatte sich dies in allen Ländern und zu allen Zeiten ganz ähnlich abgespielt. […] Im Zeitverlauf und länderübergreifend zeigt die Geschichte, daß zwischen den Wohlhabenden und den politisch Einflußreichen eine symbiotische Beziehung besteht und daß ihre Arrangements untereinander die herrschende Ordnung bestimmen
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, Vom Aufstieg und Fall von Nationen, 2022, S.39, 111.
Wenn wir uns beispielhaft die neue Symbiose zwischen dem internationalen Finanzkapitalismus und unseren „progressiven“ linksalternativen Regierungsvertretern betrachten, wird sie in den USA neuerdings als woke capitalism, bezeichnet: wacher Kapitalismus. Er kulminierte in der Emanzipationsbewegung sexueller und rassischer Minderheiten und schleift alle Bastionen herkömmlicher Normalität. Regenbogenfahnen wehen vor Firmenzentralen von Großunternehmen. Warum dies in beiderseitigem Interesse zu liegen scheint, habe ich in „Staatsfeind Liberalismus“ (2022) ausführlich dargestellt.
Hauptkritikpunkt am Finanzkapitalismus ist aus linker Sicht seine fehlende Gerechtkeit der Güterverteilung, aus rechter Perspektive, die Auflösung und Vernichtung der gewachsenen Völker und die finanzielle Erbeutung und Gleichschaltung von Staaten. Rechte und linke Gegner sind sich dagegen einig, daß die Grenzen des globalen Wachstums erreicht sind und jedes weitere Wachstum unsere natürlichen Lebensgrundlagen vernichtet. Wachstum ist aber eine dem Finanzkapitalismus inhärente Existenzvoraussetzung.
Völker und Kulturen interessieren Dalio nicht sonderlich. Sie sind keine Rechengrößen in seinen analytischen Modellen, die nach den Kausalzusammenhängen wie zwischen Geldmengenwachstum und Verschuldung, Macht und Niedergang fragen. Es liegt allerdings auch für ihn auf der Hand, daß nicht jedes Volk gleichermaßen zum „Aufstieg“ befähigt ist:
Alle Menschen kommen mit Erbgut auf die Welt, das ein Stück weit beeinflußt, wie sie sich verhalten. Daß die genetische Beschaffenheit der Bevölkerung eines Landes Effekte darauf hat, wie sich dieses Land entwickelt, ist daher logisch.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, Vom Aufstieg und Fall von Nationen, 2022, S.93.
Nicht jeder mag jeden, was zu Konflikten entlang bestimmter Bruchlinien führt:
Mit wem oder womit sich Menschen am stärksten verbunden fühlen, am häufigsten umgeben und die größten Gemeinsamkeiten aufweisen, bestimmt, welcher Klasse oder welchen Klassen sie angehören. Und ihre Klasse bestimmt, wer ihre Freunde und Verbündete sind, und wer ihre Feinde. Die häufigsten maßgeblichen Klassen sind Reich und Arm und Rechts (will heißen, kapitalistisch) und Links (sozialistisch). Es gibt noch viele andere wesentliche Unterscheidungen, etwa nach Ehnie, Religion, Geschlecht, Lebensstil (also liberal oder konservativ) und Wohnort (beispielsweise Stadt, Standtrand oder Land). Generell lassen sich die Menschen in diese Klassen einteilen, und in guten Zeiten im Frühstadium eines Zyklus besteht Harmonie zwischen diesen Klassen. Werden die Zeiten schlechte, gibt es immer mehr Auseinandersetzungen.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, Vom Aufstieg und Fall von Nationen, 2022, S.124.
Zu große innerkulturelle Unterschiede innerhalb eines Landes sind konfliktträchtig und können den Niedergang beschleunigen:
Jede Gesellschaft entwickelt eine Kultur auf der Grundlage, wie die Wirklichkeit ihrer Auffassung nach funktioniert, und jede Kultur liefert Grundsätze, an denen sich die Menschen im Umgang mit der Realität orientieren sollten – und vor allem im Umgang miteinander. […] Klaffen die Wertvorstellungen immer weiter auseinander, vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten, so führt das gewöhnlich zu Perioden mit stärkeren Konflikten. […]
Oft verteufeln sie die Mitglieder anderer Stämme, statt sich bewußt zu machen, daß diese, wie sie selbst, so gut sie es eben verstehen, nur tun, was in ihrem eigenen Interesse liegt.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, Vom Aufstieg und Fall von Nationen, 2022, S.99, 101.
Problem erkannt
Innerhalb jedes Zyklus kommt es nach Dalio kurz vor dem Zusammenbruch zu Konflikten. Diese sind vordergründig ideologischer oder religiöser Art. Er ordnet sie aber letztlich als Verteilungskämpfe ein. Je weiter ein Staat die Schere zwischen Arm und Reich auseinanderklaffen läßt, desto gefährlicher wird es. Dalio erkennt in der linken Gerechigkeitskritik am Kapitalismus das systemgefährdende Potential.
Meiner Meinung nach besteht die größte Herausforderung für die Politik darin, ein kapitalistisches Witschaftssystem auf die Beine zu stellen, das die Produktivtät und den Lebensstandard steigert, ohne Ungleichheit und Instabilität zu vergrößern.
Ray Dalio, Weltordnung im Wandel, Vom Aufstieg und Fall von Nationen, 2022, S.128.
Leider sagt er uns nicht, wie ein solches System aussehen soll, denn das weiß offenbar bisher niemand. In der Systemlogik des Wirtschaftsliberalismus befindet sich ein blinder Fleck. Er baut ausschließlich auf methodologischem Individualismus auf. Jeder sei sich selbst der nächste, und wenn jeder rein egoistisch seine Privatinteressen verfolge, diene das am besten dem Wohlstand Aller. Leider glaubt an diese Legende aus dem 19. Jahrhundert kaum noch jemand, auch Dalio nicht. Er sieht nämlich die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich gerade als zwangsläufige Folge des Wohlstandes auf dem Höhepunkt eines Zyklus, und wenn sie zwangsläufig immer wiederkehrt, kann man sie eben nicht ändern.
Wie vor ihm Friedrich von Hayek denkt Dalio grundsätzlich vom Individuum her. Darum sind für ihn kollektivistische Systeme ein Krisenindikator für die Periode innerer Konflikte in Niedergangsphasen. Beim Individualismus dagegen steht „das Wohlergehen des Einzelnen über allem anderen“ (S.258). Daß man diesen Ausgangspunkt teilen, zugleich aber im Wohlergehen einer Personengemeinschaft (Familie, Stamm, Volk) eine Grundvoraussetzung für das Wohl des Einzelnen sehen kann, erwähnt Dalio nicht.
Das andere Extrem, der Kollektismus, beruht philosophisch auf einem Holismus. Für ihn ist also das kollektive Ganze eine Art eigenes, einheitliches „Wesen“, dem sich die individuellen Personen als Teile einzufügen haben.
„Das Bestreben, aus liberal-westlicher Sicht den drohenden Kommunismus mit dem gerade besiegten Faschismus oder Nationalsozialismus in denselben Topf des Holismus zu werfen, verlieh dem Evangelium des methodologischen Individualismus zusätzlichen ideologischen Elan und sorgte für seine rasche Verbreitung. Als Evangelisten der liberalen Werte des bedrängten Westens erlangten Hayek und Popper ihren Ruhm.“
Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch, Band 1: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität (1999), S.141.
Die Gemeinschaft: der blinde Fleck
Das „neoliberale Denkschema“ Röpkes und Hayeks litt aber unter einem Denkfehler:
„Es bejahte den Wirtschaftsliberalismus und lehnte seine Folgen ab, es verteidigte die liberalen Prämissen und bekämpfte die massendemokratische Uminterpretation und Weiterentwicklung derselben. Aber Atomisierung der Gesellschaft, eudämonistisches Kalkül und Auflösung von Traditionen und substantiellen Bedingungen im Wertepluralismus stellen die notwendigen Konsequenzen des Wirtschaftsliberalismus auf hochtechnisierter Basis dar.“[1]
Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch, Band 1: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität (1999), S.141.
Für diese Konsequenzen ist der Liberalismus blind und hat der Finanzkapitalismus kein Auge. Hayek hatte ihn vernachlässigt und Dalio verharrt in dieser Denkspur. Hayek bezeichnete Solidarität und Altruismus als atavistische Instinkte, die heute anachronistisch geworden seien.[2] Ein Mensch allein, schrieb dagegen Konrad Lorenz, ist in gewisser Weise gar kein Mensch:
„Nur als Mitglied einer geistigen Gruppe kann er voll Mensch sein. Geistiges Leben ist grundsätzlich überindividuelles Leben; die individuelle konkrete Verwirklichung geistiger Gemeinsamkeit nennen wir Kultur.”
Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, 9.Aufl. 1978, S.66.
Der Verhaltensforscher hatte schon vor Jahren weitsichtig formuliert:
„Wir müssen lernen, einsichtsvolle Humanität dem Individuum gegenüber mit der Berücksichtigung dessen zu verbinden, was der menschlichen Gemeinschaft not tut. Der Einzelmensch, der mit dem Ausfall bestimmter sozialer Verhaltensweisen und dem gleichzeitigen Ausfall der Fähigkeit zu den sie begleitenden Gefühlen geschlagen ist, ist tatsächlich ein armer Kranker, der unser volles Mitgefühl verdient. Der Ausfall selbst aber ist das Böse schlechthin.[3]
Konrad Lorenz, Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 1973, 9.Aufl. 1978, S.66.
Dalio ist Fachmann für Wohlstand. Was der Gemeinschaft not tut? Kaufkraft natürlich. Gab es da sonst noch etwas? Innerhalb seines Gedankenkosmos kommen überindividuelle Gemeinschaften nicht vor. Er verkörpert die Extremposition des Individualismus gegenüber der Extrempositon des Kollektivismus. Im Ansatz sieht er das Problem, „ein kapitalistisches Witschaftssystem auf die Beine zu stellen, das die Produktivtät und den Lebensstandard steigert, ohne Ungleichheit und Instabilität zu vergrößern.“ Daß er dafür keine Lösung finden konnte, versteht sich innerhalb der liberalen Ideologie von selbst.
Und wenn es Dalio in einem Land mal nicht gut geht oder es sich im Niedergang befindet? Sein radikal individualistischer Rat lautet: Dann kann man ja den Wohnsitz wechseln: Ubi bene, ibi patria.
Am Liberalismus gehen bekanntlich die Völker zugrunde. Ray Dalio klärt uns wenigstens darüber auf, wie Kapitalisten dennoch ihren Wohlstand aufrechterhalten können, frei nach der Devise: Edel geht die Welt zugrunde!
Fortsetzung:
Vorwärts in den Bürgerkrieg?
Lesen Sie zum Thema Finanzkapitalismus auch hier weiter:
[1] Panajotis Kondylis (1999), S.142. Klaus Kunze, Staatsfeind Liberalismus, 2022, S.116.
[2] Alain de Benoist, Gegen den Liberalismus (2021), S.243.
[3] Konrad Lorenz (1973 / 91978), S.66.
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