Warum unsere bürgerlichen Freiheiten bedroht sind und wer sie bedroht
Heute[1] umgibt den Liberalismusbegriff ein von Kuehnelt-Leddihn so bezeichnetes „semantisches Chaos sondergleichen.“ Ganz unterschiedliche historische Strömungen haben liberales Gedankengut aufgenommen und verstellen den Blick auf den gedanklichen Kern der liberalen Metaphysik: „der Präliberalismus eines Adam Smith, noch bevor das Wort im politischen Sinne aufgetaucht war; der Frühliberalismus, der katholisch und aristokratisch war (Tocqueville, Montalembert, Acton); der wirtschaftlich stark interessierte Altliberalismus (Cobden, Mill, Mises, Hayek), der einem politischen Relativismus zuneigte und manchmal auch deistische Züge aufwies; der Neuliberalismus (Röpke, Rüstow, Briefs, Villey), der sich sehr wohl des Frühliberalismus erinnerte und sich besonders im deutschen Raum entfaltete, wo er auch für das Wirtschaftswunder primär verantwortlich war und schließlich ein Pseudoliberalismus, der amerikanische Wurzeln besitzt und zunehmend auch in Europa sein Unwesen treibt.“[2] Als „Pseudo-“ bezeichnet Kuehnelt-Leddihn, was sich heute in den USA unter „liberal“ tummelt, weil er als aristokratischer Frühliberaler mit den scheußlichen Linksliberalen noch nicht einmal den Sammelnamen gemein haben möchte.
Gerade im Zeitalter des bürgerlichen Liberalismus waren viele unter anderem auch ein bißchen liberal, oder sie waren liberal, aber nur auf einem isolierten Gebiet wie dem der Ökonomie. Hier gilt es den Kern der Gemeinsamkeiten zu erkennen, der den philosophischen Liberalismus eigentlich ausmacht. Nur diesen idealtypischen, zu Ende gedachten Liberalismus meinen wir. In den liberalen Ideenkreis gehören alle Anschauungen, die allein aus prozeduralen Formprinzipien so etwas wie Wahrheit, Gemeinwohl oder Gerechtigkeit schöpfen möchten. Die liberale Orthodoxie läßt nach Juan Donoso Cortés[3] Bonmot die Gesellschaften sich selbst regieren durch Vernunft, die auf eine allgemeine Weise den Finanzstarken anvertraut ist und auf eine besondere Weise den Intellektuellen, welche diese unterrichten und leiten. Diese verkünden kraft des Dogmas von der Balance, daß die Wahrheit aus dem ewigen Gespräch und daß die politische Ordnung aus dem Chaos der gesellschaftlichen Kräfte ex nihilo hervorgeht, so wie die ungezügelten Einzelinteressen das Gemeinwohl erzeugen.
Den weltanschaulichen Kern dieses Liberalismus bildet der Glaube, aus der freien Aktivität aller Kräfte und Gegenkräfte entstehe von selbst im allgemeinen jede Art von Harmonie, in der Diskussion die vollkommene Wahrheit und im Gesellschaftlichen das Gemeinwohl.[4] Dieser Glaube gründet sich auf die teleologische Vorstellung einer Heterogonie der Zwecke. Hier besagt er, „eine unsichtbare Hand verwandle das Chaos der an sich eigennützigen oder kurzsichtigen Handlungen der Einzelnen in ein harmonisches Gleichgewicht.“[5] „Den Kern der neoliberalen Ideologie bildet also eine Markttheologie,“[6] an die man glauben soll.
Wem nützt Liberalismus?
Der Liberalismus ist das umfassende metaphysische Rechtfertigungssystem der in den westlichen Ländern herrschenden Personen und Gruppen.[7] Seit den 1970er Jahren hat diese Ideologie in Deutschland als Neoliberalismus einen Siegeszug angetreten. Dabei blieben die unsere Gesellschaft traditionell stützenden Institutionen weitgehend auf der Strecke: Privatisiert wurden die Post, die Bahn, die Wohnungen des früheren sozialen Wohnungsbaus und andere Errungenschaften der Daseinsvorsorge. Dabei leugnete der Neoliberalismus seine Existenz als „ideologisches Umgestaltungsprojekt aller gesellschaftlichen Verhältnisse“ und gab sich als „rationale und vernünftige Anerkennung der Naturgesetzlichkeiten des freien Marktes“ aus, womit es ihm gelang, sich als Ideologie nahezu unsichtbar zu machen.“[8]
Unser Staat und unsere demokratischen Mitwirkungsrechte sind bereits vielfach durchlöchert und ausgehöhlt. Über die Hundesteuer dürfen wir noch selbst entscheiden. Die großen, die Wirtschaft und die Kapitalflüsse regelnden Entscheidungen wurden nach Brüssel verlagert. Dem neoliberalen Projekt „ging es darum […], Nationalstaaten – unter ideologischen Schlagworten wie Globalisierung, Flexibilisierung und Deregulierung – so umzubauen, daß dadurch geeignete institutionelle Rahmenbedingungen für einen globalen Konzern- und Finanzkapitalismus geschaffen werden und zugleich der globale Kapitalismus gegen jede Form demokratischer Bedrohungen geschützt wird.“[9]
Unser derzeitiger Parteienstaat und seine liberale Herrschaftsideologie, dienen letztlich der Aufrechterhaltung eines bestimmten Status quo, in dem sich faktische Machtpositionen normativ ausprägen[10] und stabilisieren. Das ist leider nicht die Macht der Bürger. Die Staatsbürger wurden vielfach „demobilisiert“ und zu „passiven Konsumenten“ herabgestuft.[11] Sie sind der Macht unterworfen, die ihren ökonomischen Vorteil aus einer Wirtschaftsverfassung ziehen,[12] in der ein freies Spiel der Kräfte weitestmöglich ist. Für sie hat sich die Bezeichnung Kapitalismus eingebürgert. Er ist die dem politischen Liberalismus entsprechende Wirtschaftsform. Ihre Gesetzmäßigkeiten führen innerstaatlich und international zu analogen Wirkungen: Freie Geldwirtschaft begünstigt den ökonomisch Starken dadurch entscheidend, daß er alle anderen als ökonomische Kräfte wirksam aus dem Kreis der allgemein akzeptierten Spielregeln ausschließt. Der ökonomisch Schwache soll sich nicht mehr mit anderen als ökonomischen Mitteln wehren dürfen: vor allem nicht mit Gewalt.
Die Utopie der Wahrheit kraft Diskussion
Eine ideologische Fiktion dient dazu, ihm diesen Verzicht schmackhaft zu machen: Die Utopie der angeblichen government by discussion, der Regierung der aus der Diskussion geborenen Vernunft selbst. Diese war schon in der Frühzeit des Liberalismus bloße Idee, die „so zwar der Ideologie des liberalen Honoratiorenregimes, nicht jedoch dessen Praxis historisch entsprach. Denn auch zu einer Zeit, als der Parlamentarismus noch … auf weitreichend homogener, sozial privilegierter Basis beruhte, ging es um handfeste Eigeninteressen, war »government by discussion« die Ideologie, »government by corruption« jedoch sehr häufig die Wirklichkeit.“[13] Um ihre finanzielle Überlegenheit voll ausspielen zu können, mußten theoretisch alle entgegenstehenden Wertvorstellungen ausgeschaltet und nur die harmlose Diskussion übrig gelassen werden.
Zur Disposition mußten konsequenterweise also alle diejenigen eigentlichen Wertinhalte gestellt werden, die sich nicht im formellen freien Kräftespiel von selbst einstellen. Doch welche Ideen schützen den Liberalismus noch vor seiner eigenen Abschaffung, wenn sich zum Beispiel der Respekt vor dem Privateigentum des anderen eines Tages einmal nicht aus der freien Diskussion ergibt? Ratlos seufzt Habermas: „In modernen Wirtschaftsgesellschaften spitzt sich dieses allgemeine Problem in besonderer Weise zu auf die normative Einbindung der aus traditioneller Sittlichkeit entlassenen strategischen Interaktionen.“[14] Offiziell erklärt sich der Liberalismus für unzuständig, eine geistige und moralische Ordnung herzustellen.[15] Das Problem ist auf alleiniger Grundlage der liberalen Vorstellung einer Ordnung nicht zu lösen, die sich angeblich von selbst einstellt, wenn sie die „aus der traditionellen Sittlichkeit entlassenen“ internationalen Finanzstarken machen läßt, was sie wollen. Sie kann man allenfalls durch eine staatliche Ordnung auf Grundlage von Ordnungsideen einbinden, deren zentraler Wert ein anderer ist als das freie Kräftespiel.
Das normative Mäntelchen
Wem also nützt Liberalismus konkret? „Die liberalen Rechte, die sich, historisch gesehen, um die gesellschaftliche Stellung des privaten Eigentümers kristallisiert haben, lassen sich unter funktionalen Gesichtspunkten als die Institutionalisierung eines marktgesteuerten Wirtschaftssystems begreifen, während sie unter normativen Gesichtspunkten bestimmte private subjektive Freiheiten gewährleisten.“[16] Diese normativen Freiheiten haben aber, wie alle Normen, auch einen funktionalen Zweck: Sie sind einerseits den marktwirtschaftlichen Prinzipien zugeordnet, andererseits besteht ihr materieller Wertgehalt darin, alle mit dem freien Kapitalmarkt unvereinbaren Prinzipien zu vernichten. So hält der normative Kern des bürgerlichen Liberalismus letztlich eine bestimmte Eigentumsordnung und eine Chancenverteilung aufrecht: Begünstigt ist beim Erwerb materieller Güter, wer bereits materielle Güter besitzt. Die liberale Ethik fordert so viel wirtschaftliche Privatautonomie wie möglich, und bewahrt gerade noch so viel Staat, wie nötig ist, um das Eigentum als solches und das marktgesteuerte Wirtschaftssystem zu erhalten.
Der normative Kernbestand des Liberalismus läßt sich nur verstehen durch eine Gesetzmäßigkeit, der nicht nur der Liberalismus unterliegt: Ein komplexes soziales System läßt sich nur aufrecht erhalten, wenn seine funktionalen Voraussetzungen normativ aufgeladen werden. So wandelt sich das Geldhaben-Dürfen zum heiligen Recht des Kapitalisten, und alle konkurrierenden Wertprinzipien wurden zu Unwerten. „Reichtum wünscht sich moralisch zu nobilitieren.“[17] Auf der anderen Seite des wirtschaftlichen Zyklus mußte dem Verbraucher ein ebenso heiliges Recht zugesprochen werden: Es dient funktional dazu, die Voraussetzungen der massenhaft produzierenden Industriegesellschaft zu sichern. Inhaltlich tritt es als Werthaltung auf, indem es den Begriff der Menschenwürde uminterpretierte: Mit ihm verbindet sich jetzt die Vorstellung egalitärer Teilhabe am Massenkonsum als Voraussetzung sogenannter Selbstverwirklichung. Die Menschenrechte sind also „entgegen dem teleologischen Geschichtsverständnis der Demokraten keine endgültige geistige und ethische Errungenschaft nach langen Jahrhunderten der Unterdrückung und der Finsternis, sondern“ stellen „im Grunde die Funktions- und Überlebensweise der Massendemokratie dar“ und sind mit ihr „auf Gedeih und Verderb verbunden.“[18]
Die liberale Ethik des Parteienstaats dürfen wir als die Ethik derjenigen begreifen, die unter den konkreten Bedingungen des Parteienstaates wirtschaftliche und sonstige Vorteile genießen, weil sie Parteiungen angehören, die unter einem löcherig gewordenen staatlichen Dach ihre Schäfchen ins Trockene bringen. Sie setzen ihr spezifisches Recht eigennützig so, daß es sie und ihren weiteren Machterhalt begünstigt. Die Geldmacht ist angewiesen auf ein System, das funktional alle nicht ökonomischen Machtmittel ausschaltet, indem es sie in ihrem materiellen Wertgehalt negiert und tabuisiert. „Weil das Recht auf diese Weise mit dem Geld und administrativer Macht ebenso verzahnt ist wie mit Solidarität, verarbeitet es in seinen Integrationsleistungen Imperative verschiedener Herkunft.“[19] Das Recht ist in einem politischen System, das den Regeln der Theorie der kommunikativen Vernunft folgt, aus demjenigen Grund mit Geld und administrativer Macht verzahnt, weil es das Geld und die administrative Macht kraft seiner eigenen Spielregeln zu den ausschlaggebenden, letztlich alleinige Geltung beanspruchenden Regeln erhebt. Demgegenüber ist die von Habermas beschworene Solidarität als weiterer Imperativ eine pure Fiktion in einem Gesellschaftssystem, welches die Prämie auf egoistisches und nicht auf solidarisches Handeln setzt.
Die liberale Theorie befaßt sich eingehend mit dem Problem der Herrschaft: „Wer soll regieren?“ Sie will innergesellschaftliche Konflikte regulieren und die Gesellschaft trotz aller Gegensätze zusammenhalten, weil sie das ganz einfach für „vernünftig“ hält.[20] Weiter reicht ihr Ehrgeiz nicht. Der Liberalismus stellt eine Theorie zur Minimierung staatlicher Funktionen dar. Natürlich gibt es ordoliberale Wirtschaftswissenschaftler und Manager wie den von Kommunisten ermordeten Alfred Herrhausen, die Marktwirtschaft und Gemeinwohlbezug miteinander verbinden. Es gab auch Ludwig Erhard, der den liberalen Gedanken der freien Marktwirtschaft mit dem Sozialstaat versöhnen wollte und die soziale Marktwirtschaft erfand. Männer dieses Schlages sind unideologische Pragmatiker. Weit entfernt vom libertären Fundamentalismus benutzten sie auch liberale Prinzipien, verabsolutierten sie aber nicht.
Der neoliberale Extremismus
Wie jede Idee muß aber auch die liberale darauf geprüft werden, wohin ihre absolute Dominanz über andere Prinzipien führt. Man kann sie wie jede Idee ideologisch einseitig aus einem Prinzip entwickeln: dem der Harmonie, die sich von unsichtbarer Hand aus dem Nichts einstellt. Dieses idealtypische Bild eines normativen Liberalismus muß in gedanklicher Klarheit entwickelt werden, um das Walten liberaler Vorstellungen zu erhellen und aufzuzeigen, wohin sie gedanklich konsequent führen. So können wir den libertären „Nur-Liberalen“ skizzieren: Sein Wertegerüst ist denkbar mager. „Laß doch jeden machen, was er will!“, lautet sein Motto. Eine Gesellschaft der Wölfe schreckt ihn nicht. Für überindividuelle und nicht materiell verstandene Sinnfragen ist er vollständig blind, und zwar ganz bewußt.[21] Gegen eine multikulturelle Gesellschaft aus Muselmanen, Christen, Pornographen und Satansanbetern hätte der Liberale keine prinzipiellen Einwände, solange ihm niemand aus religiösen Gründen das Geldverdienen verbieten würde.
Der Neoliberalismus wünscht sich einen Staat, der den Kapitaleignern gegenüber schwach, aber auf der anderen Seite so stark ist, daß er die finanziell nicht so begünstigte Mehrheit der Bevölkerung wirksam davon abhalten kann, auf dumme Gedanken zu kommen. Er zielt „auf die Schaffung eines gewährenden schwachen Staates für Reiche und Konzerne und zugleich auf die Schaffung eines starken disziplinierenden Staats für die Bevölkerung.“[22] Ein disziplinierender Staat ist zum Beispiel einer, der seine Bürger mit Gefängnisstrafe wegen Volksverhetzung bedroht, wenn sie zu heftig ihren Unmut über Zuwanderer ausdrücken, auf die Wirtschaft, Industrie und Kapitaleigner zur Aufrechterhaltung des Bruttosozialprodukts und ihrer Zuwachsraten doch angewiesen sind.
„Der französische Sozialanthropologe Loic Wacquant bezeichnet den neoliberalen Staat daher als Centaurenstaat, ein ‚liberaler Kopf auf einem autoritären Körper‘.[23] Die ‚unsichtbare Hand‘ des Marktes für unsichere Arbeitsverhältnisse findet ihre institutionelle Entsprechung in der ‚eisernen Hand‘ des Staates, der bereitsteht, die Unruhen, die aus der zunehmenden Verbreitung sozialer Unsicherheit resultieren, unter Kontrolle zu halten.'“[24] Während die hier zitierten linken Autoren bei diesen Feststellungen an soziale Unruhen durch mangelnde Verteilungsgerechtigkeit denken, treffen sie auf soziale Unsicherheiten durch unkontrollierte Masseneinwanderung ebenso zu.
Die Angst vor staatlicher „Regulierung“ und einer die Freiheit des Kapitals begrenzenden gesetzlichen Ordnung treibt den Liberalen, nach einem Bilde Carl Schmitts, erst vom Staate wegt, während ihn die Angst vor dem Sozialismus schnell wieder ein Stück weit zum Staate hintreibt. „So schwankt er zwischen seinen beiden Feinden und möchte beide betrügen.“[25] Jede demokratische Partizipation des Volkes liegt dem freien Kapitalfluß quer im Magen. Er glaubt daran, verborgene Wirkkräfte des freien Marktes würden wie mit unsichtbarer Hand das Gemeinwohl erzeugen. Wozu dann überhaupt noch demokratisch herbeigeführte Entscheidungen, wenn der Markt das viel besser weiß? „Logischerweise würde ein außer Rand und Band geratener Liberaler ein Anarchist, nie aber ein Sozialist werden.“[26]
Gesellschaftliche Bindungen und Pflichten der Menschen gegenüber der Gemeinschaft stören da nur. Man denkt sich dann ein Weltbild aus, das vom sozialen Wesen des Menschen nicht viel übrig läßt.[27] „Im pervertierten Freiheitsbegriff des Neoliberalismus bezieht sich die ‚Freiheit‘ einer Person darauf, daß sie sich den Kräften des ‚freien Marktes‘ zu unterwerfen hat, also von allen gesellschaftlichen und sonstigen Banden ‚befreit‘ und somit sozial und gesellschaftlich entwurzelt ist.“[28] Diese Bande sind primär die der eigenen Familie, der weiteren verwandtschaftlichen Sippe, der Heimatregion und der Nation.
Potentielle Räuber, Plünderer, Mafiosi oder Finanzhaie werden sich nicht nach einer effektiven Staatsgewalt sehnen, die sie in ihrem Eifer nur behindern könnte. Ihre Ethik wird eine kriminelle, anarchische, autonome oder liberale sein, jedenfalls eine gemeinschafts- und tendenziell staatsfeindliche. Wer sich dagegen durch Räuber etc.pp. oder durch einen äußeren Feind bedroht fühlt, wird seinen Schutz unter einem starken Staat suchen und eine dementsprechende Gemeinschaftsideologie bzw. -ethik entwickeln. Der Liberalismus reduziert den Menschen auf Ökonomie und fungiert damit als Herrschaftsideologie der ökonomisch Starken gegenüber den ökonomisch Schwachen. Sie redet ihnen ein, das freie Walten rein ökonomischer Gesetze führe auch zu ihrem Vorteil, und diesen Vorteil sieht er ausschließlich im Geldverdienen: So bezeichnet Fukuyama ihn ganz richtig als dasjenige „Regelsystem, in dem das materielle Eigeninteresse und die Anhäufung von Reichtum als legitim gelten.“[29]
Mit Volldampf in die One World
Der Liberalismus ist die Ideologie des ökonomisch Starken nicht nur im privaten und innerstaatlichen, sondern auch im internationalen Maßstab. Seine Endzeitvision ist der globale Markt in der liberalen One World. „Der Erwerbssinn, die Hauptkraft der jetzigen Kultur, postuliert eigentlich schon um des Verkehrs willen den Universalstaat.“[30] Dessen Verfechter Fukuyama, sieht die menschliche Entwicklung linear mit einem Anfangs- und Endzustand geradewegs ins Finale der reinen Ökonomie abrollen.[31] Im unmittelbaren Interesse der ökonomisch stärksten Macht liegt es, alle nicht ökonomisch vorgetragenen Angriffe dadurch unmöglich zu machen, daß die Ökonomie zum allein legitimen Austragungsort von Konflikten erklärt wird. Das ist die klassische Strategie der USA.
Sie wird allerdings erst funktionieren, sobald alle unliberalen Störenfriede befriedet sind. Solange die Gegner des globalen Kapitalflusses mit anderen als ökonomischen Mitteln kämpfen, muß die Alleingeltung des Ökonomischen notfalls gewaltsam hergestellt werde; zum Beispiel durch einen kleinen, vom CIA inszenierten Umsturz in irgendeiner Bananenrepublik. Das Freihandelsprinzip verlangt freien Zugang aller Anbieter zu allen Märkten. Es begünstigt daher die Wirtschaftsmächte, welche aufgrund ökonomischer Stärke billiger anbieten und die Wirtschaft der ausländischen Konkurrenz in den Bankrott treiben können. Haben sie auf diese Weise ein faktisches Monopol errungen, können sie im wesentlichen frei über die Preise verfügen. Bei kriegswichtigen oder zivil unentbehrlichen Rohstoffen ist das Embargo dessen, der über den Rohstoff oder seine Handelswege verfügt, ein erprobtes Mittel gegen andere Staaten, die nicht über den Rohstoff verfügen. Unter Geltung rein handelsmäßiger Gesetze kann ein Staat so den anderen ruinieren oder zur Eröffnung militärischer Feindseligkeiten nötigen. Die Vorgeschichte des japanischen Angriffs auf Pearl Harbour ist nur eines von vielen anschaulichen Beispielen für eine Strategie, mit den scheinbar friedlichen Mitteln des Wirtschaftsboykotts und der Handelsblockade einen Gegner in die Knie oder zum Krieg zu zwingen.
Durchgesetzt hat sich auch im internationalen Wettbewerb erst, wer seine Macht normativ begründet und seine Gegner zur Anerkennung derjenigen Normen bewegt, deren Geltung die Macht weiter stabilisiert. Wo ausschließlich ökonomische Gesetze herrschen, ist militärische Macht nutzlos; ebenso wie umgekehrt in einer von militärischen Gesetzen erfüllten Welt der bloße Händler machtlos ist und wie in einer von göttlichen Geboten erfüllten Welt der Ketzer nichts zu melden hat. Das Ende der Geschichte und die Heraufkunft einer „friedlichen“ Handelsepoche auszurufen bedeutet also nichts anderes, als den Machtanspruch derjenigen konkreten Menschen und Menschengruppen anzumelden, die ihre Stärke und ihren Vorteil in einer Weltordnung sehen, die allein unter handelsmäßigen Gesetzen steht. In fortgeschritteneren Ländern vermag man ein anderes als das Händlerethos schon gar nicht mehr zu denken. Anders außerhalb der westlichen Wertschöpfungsgemeinschaft: Diese eignet sich offenbar hervorragend dazu, eine Zeitlang den materiellen Wohlstand von Industriestaaten zu sichern. Unter den Gesetzen eines globalen Marktes verwandeln sich die Güter aller Nationen in käufliche Waren.
Am Ende verwandelt sich der Mensch selbst zur austauschbaren
Ware. Der „neoliberale Anspruch, den Menschen als Ganzes zu einer Ware zu
machen und ihn marktförmig zu gestalten und damit gleichsam einen neuen
Menschen zu schaffen, kommt einem totalitären Anspruch gleich.“[32]
[1] Ich publizierte diesen Text 1995 in meinem Buch „Mut zur Freiheit auf S.115-130. Für diese Neupublikation habe ich ihn um historische Rückbezüge gekürzt, aber um neuere Fundstellen mit Zitaten ergänzt.
[2] Kuehnelt-Leddihn, Liberalismus auf amerikanische Art, Criticón 1991,105 f..
[3] Donoso Cortés, Juan, Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus, 1851, Hrg.Günter Maschke, Weinheim 1989.
[4] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.45 ff.
[5] Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Weinheim 1991, S.15 f., 34.
[6] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, 2019, S.78.
[7] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923, 2.=7.Aufl.1926/1991, S.45.
[8] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, 2019, S.73.
[9] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, 2019, S.67.
[10] Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, 3.Aufl.1929, S.337 ff.
[11] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.81.
[12] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.66.
[13] Kremendahl, Pluralismustheorie, S.108 unter Berufung auf Karl Loewenstein.
[14] Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, S.23.
[15] Comte, Die Soziologie, S.59, „Die stationäre Lehre“.
[16] Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992., S.104.
[17] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, 2019, S.36.
[18] Kondylis, Der Niedergang.., S.209.
[19] Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, S.59.
[20] Vgl. ebenso bei Dettling, Demokratisierung, S.15.
[21] Ebenso z.B. Joachim Fest, Offene Gesellschaft mit offener Flanke, FAZ 21.10.1992; Ernst Nolte, Die Fragilität des Triumphs, FAZ 3.7.1993.
[22] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.72.
[23] Loic Wacquant, Bestrafen der Armen: Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, 2013, S.63
[24] Loic Wacquant, Armut als Delikt, in: Heinz Bude und A. Willisch (Hrg.), Exklusion. Die Debatte über die Überflüssigen, S.21-224 (214), zitiert nach Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.72.
[25] Carl Schmitt, Politische Theologie, S.77.
[26] Erik von Kuehnelt-Leddihn, Liberalismus auf amerikanische Art, Criticón 1991,105.
[27] Konrad Adam , Die Ohnmacht der Macht, Berlin 1994., S.187.
[28] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.84.
[29] Francis Fukuyama, Die Zukunft des Krieges, FAZ-Magazin 16.12.1994, S.16 ff. (17).
[30] Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905, Neudruck, Stuttgart o.J., S.126, 65.
[31] Francis Fukuyama, Der Mensch braucht das Risiko, DER SPIEGEL Nr.15/1992, S.256; ders. Das Ende der Geschichte – Wo stehen wir? 1992.
[32] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.81.
Thomas Engelhardt
Ausgezeichnete Analyse des neoliberalistischen Kapitalismus angelsächsisch-atlantischer Ausprägung.
Einer umfassenden neuen (und nichtmarxistischen) Kapitalismuskritik entsprechend wäre die neoliberale Epoche des modernen Kapitalismus mit
dem Jahr 1973 anzusetzen. Mit dem gewaltsamen Sturz der marxistisch-sozialistischen Allende- Regierung in Chile begann ein folgenriches Experiment. Die sog. Chicago – Boys, radikale Ökonomen, die an der University of Chicago studiert hatten probten die monetaristischen Theorien von Gurus Milton Friedman erstmalig in der Praxis.
Bei idealen Bedingungen: Eine Inflation von 600 Prozent, Störfaktoren aufgrund der Mititärregierung von General Pinochet nicht existent.
Was folgte, war die Gesundung Chiles: Hunderte privatisierte Unternehmen, Steuersenkungen, Liquidierung der Gewerkschaften, Deregulierung derLohnsysteme, Abschaffung des Mindest-lohns, Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Finanzsektors.
In der Folge wurde die Inflation überwunden und Chile trat in eine Phase erfolgreicher Wirtschaftspolitik ein.
Der Neoliberalismus hatte sich als erfolgreich erwiesen, die Marktgesetze als richtig.
Damit wurde die Entwicklung zum global operierenden Finanzkapitalismus eingeleitet, oft umschrieben als sog. Globalisierung.
Bei Lichte betrachtet wurde damit aber lediglich die wertschöpfende Wirtschaft vom Finanzsektor abgekoppelt, der fortan ein Eigenleben entwickelte und heute die Politik und die Wirtschaft auf dem gesamten Erdball kontrolliert und beherrscht. Verbrämt wird diese Neuausbildung einer unumschränkten Herrschaft des Großkapitals und der internationalen Hochfinanz (mit mehreren Hauptzentren, an der US- Ostküste, in der rechtlich autonomen City of London, in den Wirtschaftszentren Rotchinas, in den arabischen Ölstaaten usw.) mit der neoliberalistischen Doktrin freien Wirtschaftens und dem Prinzip der Deregulierung bzw. Liberalisierung des Arbeits- und Kapitalmarktes.
Ob und inwieweit die Volksrepublik China Teil dieser Entwicklung ist oderdie dort gegebene Situation anders beurteilt werden muss erscheint bis heute nicht abschließend sicher.
Tendenziell werden aber Anstöße zu einer Infragestellung der modernen Kapitalherrschaft eher aus den arabischen oder süamerikanischen Staaten
kommen, ohne diese These hier jetzt zu begründen.
Freundliche Grüße aus dem niedersächs. Ostfalen, Thomas Engelhardt, Ilsede