Die sozialistische Wartegemeinschaft
Letzte Woche sah ich sie bei einem Blick aus dem Fenster wieder: Die gute, alte sozialistische Wartegemeinschaft. So nannte man in der DDR ironisch eine Warteschlange vor einem Laden, in dem es „etwas gab“. In meiner Apotheke gegenüber gab es Atemmasken für alte Leute, und so standen sie da:
Mit 1,5 m abgezirkeltem Abstand im nieseligen Dezemberwind, ihrer Gesundheit zuliebe. In der sozialistischen Wartegemeinschaft sind alle gleich. Die auserwählten „noch Gleicheren“ mußten da nicht mitstehen. Scharfsinnige Zeitgenossen haben die Schicksalsgemeinschaft im DDR-Sozialismus als Fortsetzung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft unter (leicht) variierten roten Fahnen betrachtet. Die roten Fahnen sozialistischer Revolutionen standen immer für die Macht des Kollektivs über den Einzelnen.
„Die Volksgemeinschaft ist zurück,“ stellte Jan Fleischhauer lapidar fest.
Das Ideal einer Gesellschaft, in der Egoismus und Eigensinn keinen Platz mehr haben und alle sich einem großen Ziel verpflichtet fühlen, war etwas aus der Mode geraten. Die Pandemie hat auch das verändert. Die Volksgemeinschaft ist jetzt das Virus-Kollektiv.
Jan Fleischhauer, Sehnsucht nach Knallhart-Maßnahmen: In Deutschland macht sich eine eigenartige Lust am Lockdown breit, Focus 19.12.2020
Es ist erstaunlich. Waren wir nicht eine heterogene Gesellschaft mündiger Individualisten? Hatten wir nicht im Geschichtsunterricht gelernt, daß Kollektivismus ein Merkmal des Totalitarismus ist? Betont nicht das Bundesverfassungsgericht ständig, daß unsere Grundordnung das genaue Gegenbild zum Kollektivmus darstellt?
In Westdeutschland trat trat der 1945 hinausgeworfene Kollektivismus der alten 1968er durch die ideologische Hintertür wieder ein. Nach 1989 wuchs er mit der SED zusammen, weil ja zusammenwächst, was zusammengehört. In der heutigen DDR light greift er wieder erfolgreich nach der Macht. Vergessen scheint der Spott des Individualisten Erich Kästner:
Allein ging jedem Alles schief.
Erich Kästner
Da packte sie die Wut.
Sie bildeten ein Kollektiv
und glaubten, nun sei’s gut.
Nichts macht einen echten Kollektivisten böser als ein Individualist, der aus der Reihe tanzt. „Stelln se sich hinten an!“, schnarrt es plötzlich im Kasernenhofton, „Haltense Abstand!“, Setzen se die Maske auf!“
Es braucht nicht viel, um sich außerhalb zu stellen. Es reicht, daß man schnell noch ein Weihnachtsgeschenk besorgt hat. Oder jemanden mit einem romantischen Essen überraschen will. Schon der unüberlegte Genuß eines Glühweins kann einen zum Volksschädling machen. Was heißt Volksschädling? Zum potenziellen Mörder!
Jan Fleischhauer, Focus 19.12.2020
Das Kollektiv entlastet den Einzelnen. Es nimmt ihm die persönliche Verantwortung für seine Entscheidungen ab: Es ist bereits für ihn entschieden. Man braucht nur das Staatsfernsehen einzuschalten. Dort tönt es tagein, tagaus aus dem Lautsprecher, was wir tun müssen und was wir sein zu lassen haben.
Unser persönliches Gewissen benötigen wir nicht mehr. Unsere öffentlich-rechtlichen Betreuungs- und Gewissensagenturen wissen schon, was gut für uns ist. Im Kollektiv lebt es sich moralisch leichter: nur gut nachbeten muß man können, was vorgebetet wird.
Als 1938 Synagogen brannten, verzweifelte der Nationalrevolutionär Ernst von Salomon:
Wir sind eigentlich schon tot. Wir können gar nicht mehr aus uns heraus leben. Alles, was um uns herum geschieht, lebt nicht aus denen heraus, die es tun, es lebt aus einem Kollektiv heraus. Wer sich zu diesem Kollektiv nicht bekennen kann, der ist tot. Das Kollektiv handelt immer unbedingt. Es verlangt auch das unbedingte Bekenntnis. Aber dieses Kollektiv hat uns nicht aufgenommen, sondern atomisiert. Atomisierte Teilchen bilden keine Gemeinschaft, sondern eine Sprengmasse.
Ernst von Salomon, Der Fragebogen, S.378 f.
Dem Kollektiv ist alles möglich, weil sich niemand persönlich verantwortlich fühlt. „Denn“, schrieb Schiller, „der Schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.“ Dabei hatte er die kollektiven Massenmorde der französischen Revolution im Sinn. Um der rasenden potentiellen Wut des Kollektivs Einhalt zu gebieten, erfand man den Staat. Er soll persönliche Verantwortlichkeit und Rechtlichkeit garantieren.
Das Kollektiv war nie Ernst von Salomons Welt. Süffisant glossiert er das Auftreten Göttinger Studenten um 1938, die sich einig waren: den Staatsrechtler Carl Schmitt lehnten sie ab, sie wollten die Volksgemeinschaft (Salomon a.a.O. S. 205 ff.). Schmitt hatte die potentielle Willkür des Kollektivs einhegen wollen, das paßte der nationalsozialistischen Jugend überhaupt nichts in Konzept.
Ganz gleich mit welcher Fahne ein Kollektiv sich schmückt, gleichgültig wie es sich ideologisch begründet: Immer nimmt es dem Einzelnen die freie Entscheidung ab. „Setzen se jefälligst die Maske auf, nachdenken können se später!“ Jeder Kollektismus beinhaltet den auf Äußerste gesteigerten Machtanspruch derer, die dem Kollektiv die Parolen ausgeben. Man kann zwar gleichförmig handeln. Über Parolen und Doktrinen wird aber nicht kollektiv entschieden. Realer Kollektivismus bedeutet immer die Herrschaft Weniger über die kollektivierte Masse.
Instrumente der sozialen Disziplinierung
Diese wird mit Ängsten zusammengetreben und mit Glaubensgewißheiten zusammengehalten. Man kann nicht im Kollektiv denken. Wer in einem Kollektiv denkt, ist bereits draußen.
Der Deutsche ist von Natur aus gläubig. […] Die deutsche Glaubensbereitschaft ist die Konjunktur aller falschen Prophete; sie führt immer wieder in Versuchung, sie schmählich auszubeuten. Wer sich darauf versteht, die glaubenshungrige Phantasie anzuregen, hat jederzeit Aussicht, eine Gemeinde zu finden. Je böser die Zeiten sind, desto verzweifelter ist der Glaube; so will man sich über sie hinweghelfen. Es braucht nur einer zu kommen, der am gewissesten von der Wende aller Not zu reden versteht: dann wird er sogleich auf Händen getragen.
Ernst Niekisch, Hitler, ein deutsches Verhängnis, 1932, S.32.
„Wir schaffen das!“ So etwas wollen die kollektiv Verängstigten hören. Ihr Chor: „Wir folgen Dir!“
Das Beschwören der bösen Zeit gehört zum Repertoire jedes Propheten: Je größer die Angst der Massen, desto gläubiger hören sie auf ihre Retter und Erlöser. Was wir heute zu glauben haben, dürfen wir jederzeit von unseren Staatssendern abrufen. Sie bilden ein Instrument unserer sozialen Disziplinierung.
Wie viele Tote ist uns denn ein Shoppingerlebnis wert? Wie viele Tote wollen wir denn in Kauf nehmen für ein Candle-Light-Dinner?“, donnerte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, in Richtung der armen Menschen, die gerade noch darüber nachdachten, wie sie am besten ihre Lieben beschenken. Derselbe Mann übrigens, der lange so agierte, als würde Corona um die Hauptstadt einen großen Bogen machen.
Jan Fleischhauer, Focus 19.12.2020
Unsere Staatssender sind ein unentbehrliches Herrschaftsinstrument unserer politischen Machthaber. Wer würde jemanden wie jenen blassen Parteifunktionär Müller anhören, wer ihn überhaupt zur Kenntnis nehmen, hätten die Parteien nicht ihre bewährten Verlautbarungssender?
Von hier aus werden wir eingenordet, moralisch gleichgeschaltet, neutralisiert, ideologisch homogenisiert und zu den guten Konformisten erzogen, die jeder Kollektivismus benötigt.
Krönert
Besser kann man es nicht beschreiben!!wir ex-ddrler kannten das alles!der gebildete wessi erlernt etwas Neues,und das mit Begeisterung!LG