Erkenne dich selbst!

Gelegentlich sollten wir kurz innehalten. Lassen wir einmal unsere Gedanken fliegen und betrachten den eigenen Standpunkt und Weg aus der Vogelperspektive.

Erkenne dich selbst – Γνῶθι σεαυτόν – stand auf dem Tempel des Apollon zu Delphi. Ein solches Ich bedient sich vieler Denkwerkzeuge und -modelle, um sich den Durchblick durch das verwirrende Getümmel der Ereignisse und das Angebot an Werkzeugen zu verschaffen, sie zu verstehen. Nicht jedes Denkmodell funktioniert, und nicht jedes Werkzeug paßt. Wir bezeichnen Deutungsmodelle herkömmlich als …ismen wie Sozialismus oder Liberalismus, und jedes möchte die Welt in seiner Weise erklären.

Alle Menschen suchen nach „der Wahrheit“ und „der Wirklichkeit“, aber mit sehr verschiedenen Werkzeugkoffern. Magisches Denken hatte die Welt völlig anders gedeutet als ein Mormone, der den Schlüssel zur Wahrheit im Buch Mormon gefunden zu haben meint.

Innere Logik und Kohäsion

Wer konsequent alle Aspekte der Welt von einer Grundannahme her deutet, kann sich natürlich schrecklich irren, wenn diese in einer bloßen Wunschvorstellung besteht. Die Folgerichtigkeit seines Denkens steht dabei nicht in Frage. Hingegen gibt es auch Wirrköpfe, die einander widersprechende Denkmodelle gleichzeitig verwenden möchten. Sie brauchen für Spott nicht zu sorgen.

Tempel des Apollon in Delphi mit der Inschrift Γνῶθι σεαυτόν
(Holzschnitt von Barthélemy Aneau, in: Picta poiesis, Lyon 1552

Tatsächlich stehen die brauchbaren Denkmodelle je nach der Frage, die sie beantworten sollen, in einem logischen, geradezu ursächlichen Zusammenhang. Wie die Zacken einer Krone ergänzen sie sich. Es folgt eine ziemlich zwangsläufig auf die andere. Wer von Beginn an von falschen Voraussetzungen ausgeht, muß am Ende zum Unsinn gelangen statt zum Sinn. Wir wollen heute den richtigen Weg abschreiten.

Wenn die Grundannahmen zueinander passen und zu einem kohärenten Gesamtbild konvergieren, wissen wir uns auf dem richtigen Weg.

Rationalität gegen Irrationalismus

Natürlich ist es erlaubt, allein von einem tödlichen Autounfall schon auf das geheime Wirken eines Geheimdienstes oder des Teufels zu schließen. Wer an dieser Abzweigung des Denkens bereits falsch abbiegt, braucht hier nicht weiterzulesen. Die rationale Vernünftigkeit unseres Denkens bildet eine Grundvoraussetzung jedes gedanklichen Schrittes. Die Denkgesetze der Logik bilden den Schlüssel zu unserem geistigen Werkzeugkoffer, ohne den wir ihn noch nicht einmal öffnen könnten.

Wir verwenden diesen Rationalismus als formale Denkmethode und vergessen nicht, daß der neuzeitliche Rationalismusbegriff sich historisch lange auch mit normativen Denkinhalten verbunden hatte, die wir nicht übernehmen müssen.

Empirismus

Die rationale Verarbeitung unserer Erfahrungen verfällt auch nicht in den Fehler jener alten Rationalisten, die wähnten, sie könnten sich eine Weltdeutung quasi mit verbundenen Augen aus dem Nichts ausdenken.

Der nette Begriff Intelligibilitätswahn trifft Leute, die sich für die handgreifliche Wirklichkeit gar nicht interessieren. Sie suchen in ihrer Studierstube nach dem „Ding an sich“ und gehen einsam ihren Spekulationen nach. Sie denken, also sind sie. Schön und gut. In ihrem Intellektualismus erfanden sich solche Leute viele Kampfbegriffe für Dinge („Entia“), die es gar nicht gibt, um sie mit ernster Miene zu verkünden.

Wir möchten dagegen erst wissen, welche Dinge es tatsächlich gibt und wie sich diese realen Dinge nachprüfbar verhalten. Gegenüber jedem abstrakten Oberbegriff und jeder Sinndeutung verhalten wir uns erst einmal skeptisch und akzepieren angebliche Fakten oder gar Schlußfolgerungen nie ohne den Vorbehalt jederzeitiger Nachprüfung.

Skeptische Prüfung ergibt zum Beispiel, daß Gegensatzpaare wie heiß und kalt, rechts und links oder gut und böse nur Maßstäbe sind, die unser Denken erzeugt und die unsere Orientierung erleichtern. Sie sind intellektuelle Begriffsschöpfungen und Denkkrücken. Wie den Äquator schaffen wir sie uns als geistige Hilfslinien zu unserem besseren Verständnis, aber nur vorhanden in unseren Köpfen.

Skeptizismus und Empirismus bilden darum Grundvoraussetzungen für jeden weiteren Schritt und führen folgerichtig zum

naturwissenschaftlichen Weltbild.

Der unbestreitbare Vorteil der empirisch vorgehenden Wissenschaft und ihre letzte Rechtfertigung besteht darin, daß sie funktioniert – Zaubern oder Gesundbeten gewöhnlich aber nicht. Ein naturwissenschaftliches Weltbild will primär wissen, was real existiert und wie es funktioniert. Es hat Vorrang vor jeder menschlichen Bewertung wie gut, schön, nützlich oder moralisch.

Der Weg zu jeder Erkenntnis führt von der empirischen Prüfung des Realen über die Hypothese einer Erklärung bis zur umfassenden Theoriebildung, die jederzeit widerlegbar bleibt. Glauben ist dagegen niemals ein Weg zur Erkenntnis der uns umgebenden Welt, sondern weist nur in die Innenwelt unserer Vorstellungen, Wünsche oder Ängste. Glauben gerinnt zum Vorurteil und lähmt nur den Wissensdrang. Er sucht Erkenntnis nicht, sondern meint sie schon zu haben. Wer glaubt, hört auf, nach Erkenntnis zu suchen. Glauben ist ein Irrweg.

Bei empirischer Betrachtung des Naturgeschehens und nach seiner rationalen Verarbeitung ergibt sich der zwingende Schluß: Der Kosmos ist von einem Bündel in sich widerspruchsfrei wirkender Naturgesetze erfüllt. „Die Natur“ verletzt nie ihre eigenen, objektivierbaren Regeln, auch wenn wir noch lange nicht alle kennen.

Der Kosmos ist von einem Satz in sich widerspruchsfreier Naturgesetze erfüllt.
(Maler: Johnny Bruck (1921-95), Titelbild Perry Rhodan Heft 217, 1965, Foto: K.Kunze)

Diese Regeln mögen nicht vollständig menschlicher Erforschung zugänglich sein. Gleichwohl schließen sie alle akausalen, nicht naturwissenschaftlichen Erklärungen wie Magie oder das Wirken einer „unsichtbaren Hand“ prinzipiell aus. Das läßt durchaus die Möglichkeit akausalen Teilchenfluges und damit des Zufalles als Erklärung zu, schließt aber Zauberei als Ursache aus.

Jede Schlußfolgerung steht auf tönernen Füßen, die mit empirisch gewonnenen Fakten etwa der Chemie, der Physik oder der Biologie unvereinbar ist. Wir verbieten uns darum alle Spekulationen, mit denen man vor Zeiten seine Wissenslücken füllte: Es ist nicht Donar, wenn es donnert, nicht Pharao, der die Sonne aufgehen läßt, kein Poltergeist, wenn es im Gebälk mal knackt, und wer tot ist, bleibt tot, kommt in keinen „Himmel“ und kein Nirwana.

Realismus

Vielleicht gibt es noch unerforschbare Phanomene, aber es gibt keine Hinweise, ein himmlisches Paradies in einem „Jenseits“ habe jemals woanders existiert als in menschlichen Köpfen. Jede der Physik widersprechende „metaphysische Weltdeutung“ beruht auf Illusionen.

Es gibt kein Jenseits, außer in unseren Köpfen. Gäbe es eines in einer „anderen Dimension“, dann wäre es mitsamt dieser Dimension Teil der per definitionem alles umfassenden Realität und prinzipiell der Erforschung zugänglich. Versuche, einem „Jenseits“ empirisch auf die Spur zu kommen, hat es durchaus gegeben: Mesmerismus und Scharlatanerie mit „Ektoplasma“ waren ihre Begleiter.

Unser Denken hatte schon vor Jahrhunderten eine entscheidende Hürde genommen und die Vorstellung widerlegt, Ideen seien realer als die empirischen Dinge. Wir sind aus dem geistigen Zwielicht von Platons Höhle ins Licht getreten: Es gibt Ideen durchaus: aber nur in unseren Köpfen.

Dezisionismus

Dort führen sie zuweilen ein idealistisches Eigenleben: Scheinbar quälen sie uns mit Geboten und Verboten, piesacken uns mit Gewissensbissen und fordern unseren Gehorsam. Sie geben sich gern als universell und absolut geltende moralische Pflichten aus: „Du sollst!“

Doch muß ich wirklich? Jedes „Du sollst“ erfordert jemanden, der es mir befiehlt. Die Stimme erschallt nur scheinbar aus dem Jenseits, tatsächlich entspingt sie unserem persönlichen Denkprozeß. Es gibt kein Gesetz ohne Gesetzgeber, keine Norm ohne Normengeber, keinen Befehl ohne Befehlsperson. Im Diesseits haben wir menschliche Gesetzgeber; ein Jenseits als Quelle übersinnlicher Normen gibt es nicht. Jeder selbst bildet sich seine innersten Überzeugungen davon, was man „soll“ und was nicht. Mein Gewissen und meine Moral gehören mir allein, und ich kann mit ihnen machen, was immer mir beliebt.

Genau das ist die Grundvoraussetzung für unsere persönliche Freiheit, uns selbst zu entscheiden, welche geistigen Leitplanken unser Handeln bestimmen sollen. Uns ist kein „Sinn gestiftet“, das kann nur jeder selbst. Befehle aus dem Jenseits bilden wir uns vielleicht ein oder verkünden sie unseren Jüngern. Tatsächlich sind das Denken und das Sinnstiften menschliche Tätigkeiten.

Freilich taugen alle Ideen auch als Waffen des um seine soziale Selbsterhaltung kämpfenden Individuums. Dazu sind sie ja da. Solche Funktionsmechanismen zu verstehen ist Anliegen der Sozialwissenschaften. Wer als Sklave die Idee durchsetzt, alle Menschen seien gottgewollt gleich und müßten in „Freiheit“ leben und gleich viel zu essen haben, hat das wohl verstanden.

Kultureller Relativismus

Von dieser geistigen Freiheit haben Menschen schon immer gern Gebrauch gemacht und sich passende Götter und ihre angeblichen Gebote oder ein „Naturrecht“ ausgedacht, um innergesellschaftliche Ansprüche auf Gehorsam wirksamer durchzusetzen.

Darum gab und gibt es ja so viele ganz unterschiedliche Kulturen mit gänzlich verschiedenen Normen, die für sich aber meistens absolute Geltung beansprucht haben. Rituelle Menschenopfer, Kannibalismus, Kreuzigungen und Verbrennungen für einen einzig wahren Gott gehörten ebenso zum Repertoire menschlicher Ideenvielfalt wie die fixe Idee „menschlicher Gleichheit“: Gegen sie versündigt man sich, wenn man ihr die empirische Ungleichheit entgegenhält.

Weil die Welt aber nun einmal so ist und die Menschen sind, wie sie immer waren, kann man das nur fasziniert oder gelegentlich auch gruselnd zur Kenntnis nehmen. Verschiedene Ideen, Werte und Normen gehören zum Menschen, weil wir von Natur aus Kulturwesen sind uns uns immer wieder aufs neue gern ideologisch aufmunitionieren.

Die Zuschauerrolle in diesem ewigen Schauspiel sozialer Interaktion kann höchst amüsant sein. Den Schiedsrichter spielen zu wollen, ist dagegen müßig.

Historismus

Soziale Phänomene und kulturelle Schöpfungen wie Religionen und Weltanschauungen zu beobachten und zu beschreiben, ist eine empirische Methode. Man kann die überlegene Warte des Beobachters umso leichter einnehmen, wenn man nicht persönlich auf dem Scheiterhaufen steht und nicht die eigenen Bücher mit verbrannt werden.

Dann kann man gelassen die Epochen der Geschichte vor dem inneren Auge Revue passieren lassen und fordern, jedes Volk und jede Epoche ohne Vorurteile aus sich selbst heraus zu verstehen. Man fragt dann, wie es damals eigentlich gewesen ist. Historisches Denken verweigert sich der Froschperspektive des Augenblicks, ohne der Versuchung einer Geschichtsmetaphysik zu erliegen:  Die Weltgeschichte ist kein Tribunal. Utopien erforscht der Historiker, glaubt aber nicht selbst an sie.

Kein Zacken darf aus der Krone fallen

Alle aufgezeigten Denkmodelle zur Erklärung bestimmter Phänomene greifen harmonisch ineinander. Man gelangt folgerichtig zum Historismus, wenn man an absolute Geltungsansprüche irgendwelcher kulturellen Werte und Normen nicht glaubt, und wer umgekehrt einen werterelativistischen Standpunkt vertritt, wird unweigerlich den Historismus bejahen, wenn er konsequent denkt.

Krone mit Zacken, deren Anzahl den Rang kennzeichnet (Wikimedia).

Die Indifferenz gegenüber angeblich höheren Werten ist wiederum die notwendige Folge, wenn man aus der verzwickten Gleichung des sozialen Lebens alle metaphysischen, spiritistischen oder esoterischen Faktoren löscht. Das liegt umso näher, wenn man auch für die Erklärung der physischen Welt keine Urriesen, Heilsbringer, Schöpfer oder Uhrmacher bemüht, die das Ganze – nur für uns natürlich – so fein gefügt haben sollen.

Der Grund für diese Stimmigkeit liegt in eine bestimmten Denkstruktur, die ich hier aufgezeigt habe. Sie entspricht dem Bedürfnis des abendländischen, forschenden, skeptischen Menschen, wie er in Europa seit Menschengedenken in Erscheinung tritt. Alte, weise Männer haben die Nebelschwaden von Unwissenheit und Mystizismus, Spiritualismus und Irrationalismus, Glauben und Aberglauben gelichtet.

Wir haben guten Grund, stolz auf die alten, weißen Männer zu sein und ihnen nachzueifern.