Empirie oder Ideologie?

Der Methodenwettstreit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften tobt unverändert heftig. Wer harte Fakten nachweist, ist nur scheinbar im Vorteil. Früher konnte man dafür von der kirchlichen Inquisition auf den Scheiterhaufen gestellt werden. Heute wird man als Professor schon mal aus dem Hörsaal geprügelt. Gestern wurde berichtet, wie der US-Physiker und Genetiker Hsu, Vizepräsident der Universität Michigan, weggemobbt wird.

Fakten haben aber einen langen Atem. Nur in den Köpfen mancher Leute halten Hirngespinste sich besonders lange, die das Wort Empirie nur mit Mühe buchstabieren können und zu lange im Staub ihrer Studierstuben verbracht haben, ohne zu lüften. Jean Jacques Rousseau glaubte im 18. Jahrhunderte eine glänzende Idee zu haben.

Menschliche Gesellschaft, verkündete er 1762, sei durch Abschluß eines Gesellschaftsvertrages gegründet worden. Vorher hätten sie in einem ungeselligen „Naturzustand“ gelebt. Mit Abschluß des contrat social hätten sie dann ihre „ursprüngliche Freiheit“ zugunsten gesellschaftlicher Bindungen und Verpflichtungen aufgegeben.

Diese fixe Idee inspiriert seit 250 Jahren linke Theoretiker aller Art zu gesellschaftspolitischen Höhenflügen, die alle auf der Hypothese der freiwilligen Bindung ursprünglich „freier“ Menschen an die ihnen von der jeweiligen linken Gesellschaftstheorie zugemuteten Vertragsklauseln ausgehen. Der angebliche Gesellschaftsvertrag weist nämlich viel Kleingedrucktes auf.

Rousseaus geistiger Nachfolger Karl Marx erblickte im angeblichen Naturzustand vor Abschluß des Gesellschaftsvertrags gar eine „kommunistische Urgesellschaft“ ohne Privateigentum. Alle seien frei und glücklich gewesen, bis zum Sündenfall des ersten Privateigentums. Daran schloß sich die Vorhölle der „Herrschaft des Menschen über den Menschen“ folgerichtig an.

Skeptiker haben solche Hirngespinste nie geglaubt. Heute kommt ihnen die Empirie entgegen. Über die „Urgesellschaft“, wenn der Begriff denn für irgendeine historische Gesellschaftsformation überhaupt sinnvoll sein sollte, wissen wir heute mehr denn je.

Vorgestern erschien in der Zeitschrift nature eine Studie von Lara M. Cassidy und anderen über die soziale Struktur der Jäger- und Sammlerkultur Britanniens vor 5000 Jahren.

Auch deutsche Magazine berichteten:

Die Forscher untersuchten die DNA von Gebeinen, die zum Beispiel in und um die monumentale Grabanlage von Newgrange in Westirland gefunden wurden. Die Ergebnisse beweisen eine sozial extrem strukturierte Steinzeithierarchie.

Um die gewaltige Grabanlage ranken sich bis heute Legenden. Eine im 11. Jahrhundert niedergeschriebene

Geschichte erzählt von einem König, der den Sonnenzyklus wieder in Gang brachte, indem er mit seiner Schwester schlief.

wissenschaft.de, Inzucht in der steinzeitlichen Elite Irlands, 17.6.2020.

Piktische Herrscher

Die Ergebnisse der genetischen Studie sind atemberaubend. Sie beweisen die Richtigkeit der irischen Legende, überliefert über 4000 Jahre! Aus der Bruder-Schwester-Hochzeit gingen Kinder hervor. Sie gehörten der führenden sozialen Herrscherschicht an. Die Autoren schreiben:

Hier legen wir Beweise dafür vor, daß eine soziale Schicht dieser Art während der Jungsteinzeit in Irland gegründet wurde. Wir haben 44 ganze Genome untersucht, unter denen wir den erwachsenen Sohn einer inzestuösen Vereinigung ersten Grades anhand von Überresten identifizieren, die in der aufwendigsten Aussparung des Newgrange-Durchgangsgrabes entdeckt wurden.

Sozial erlaubte Paarungen dieser Art sind sehr selten und werden fast ausschließlich unter politisch-religiösen Eliten dokumentiert – insbesondere in polygynen und patrilinearen Königsfamilien, die von Gottkönigen geführt werden. Wir identifizieren Verwandte dieses Individuums in zwei weiteren Hauptkomplexen von Durchgangsgräbern 150 km westlich von Newgrange sowie Unterschiede in der Ernährung und eine feinskalige haplotypische Struktur (die in der Auflösung für eine prähistorische Population beispiellos ist) zwischen Durchgangsgrabproben und der größerer Datensatz, der zusammen Hierarchie impliziert.

Cassidy u.a. am angegebenen Ort.

Eine monumentale Grabanlage wie die von Newgrange setzt eine gewisse Bevölkerungszahl und Kooperation voraus. Dazu waren die Steinzeitjäger bereits gut in der Lage. Gab es einen Ideentransfer vom fernen Ägypten, wo bereits Pyramiden von Pharaonen standen? Auch sie durften schon mal eine Schwester heiraten um die Dynastie göttlich rein zu halten.

Die irischen Steinzeitjäger bildeten jedenfalls sozial, was man durchaus eine Urgesellschaft nennen kann. Nur kommunistisch im Sinne von Karl Marx mit völliger Gleichheit war sie gewiß nicht. Aber vielleicht, würde Herr Rousseau jetzt schelmisch einwenden, hatten sie gerade zuvor einen Gesellschaftsvertrag abgeschlossen?

„Träum weiter“, würde ich ihm entgegnen, und träumt ruhig weiter von euren Hirngespinsten, die ihr von empirischer Forschung nichts wissen wollt und nur euren Phantastereien nachhängt.

Wir anderen registrieren nebenbei, daß die irischen Steinzeitjäger genetisch zur europäischen Urbevölkerung gehörten. Nach dem Rückzug der letzten Gletscher aus Zentraleuropa breiteten sich die Überlebenden der Eiszeit nach Norden aus. Als die Eispanzer Britannien freigaben, war es noch keine Insel, sondern über Doggerland mit dem Festland verbunden.

Menschen vom Cro-Magnon-Typ hatten in Rückzugsgebieten wie Südfrankreich und Kroatien die Eiszeit überstanden. Sie gehörten in der männlichen Linie zur genetischen Haplogruppe I2a und besiedelten seit ungefähr vor 10000 Jahren das eisfrei werdende nördliche Europa von Irland bis zum Ural. 94% der in der Studie untersuchten Menschen gehörten zu dieser Haplogruppe.

Sie sprachen die „nostratische“ Sprache. Die genetische Untersuchung von Cassidy bestätigt die Annahme von Steffan Bruns, die nacheiszeitlichen Besiedler Nordwesteuropas seien die Träger der Haplogruppe I2a gewesen:

Das Piktische, eine bis ins frühe Mittelalter in Schottland gesprochene Sprache, wahrscheinlich auch nostratischer Herkunft, könnte möglicherweise die letzte bekannte Sprache der I2a2-Träger gewesen sein.

Steffen Bruns, Hassegau, Geschichtliches zwischen Saale und Unstrut, 2020, S.31.

In Irland und den meisten anderen europäischen Ländern ist sie heute fast ausgestorben. Die indoeuropäischen Einwanderer haben die Männer dieser Haplogruppe in Irland ab etwa 500 Jahre nach dem Bau von Newgrange fast vollständig ausgerottet und ihre Frauen genommen. Heute haben 4/5 der irischen Männer indogermanische Gene der Haplogruppe R1.

Wie die sagenhafte Insel Avalon geht in Britannien vieles Alte in Sagen und Legenden auf. Auch die legendären Pikten mit ihren bemalten Körpern leben nur noch in unserer Phantasie und zuweilen in der Fantasy-Literatur fort.

Die Pikten leben nur noch in der Literatur fort. Die steinzeitlichen Piktenherrscher von Newgrange konnten von so einem hübschen Metallhelm nur träumen.

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