Eine Seefahrt, die ist lustig

Das Berliner Narrenschiff

„Die Lage ist hoffnungslos“, soll Konrad Adenauer gesagt haben, „aber nicht ernst.“ Als er 1967 gestorben war, defilierte ich mit meinen Eltern im Chor des Kölner Domes an seinem Sarg entlang. Die Menschenschlange war lang, die Gesichter noch länger und sehr ernst. Alle spürten: Eine Epoche war zuende.

Ein ähnliches Gefühl eines Epochenendes beschleicht dieser Tage viele Bürger. Teile der Gesellschaft haben Narrenschiffe bestiegen und treiben den Rhein oder die Spree abwärts. Wenn ich mal einen flüchtigen Blick auf die Mattscheibe erhasche, wende ich mich peinlich berührt ab. Die Witze des neuen Witzfigurenkabinetts sind schal. Sie sind nicht nur närrisch, sondern oft einfach dumm. Aus ihren Mündern lösen sich Seifenblasen wie bunte Luftballons. Sie klatschen sich selbst dazu Beifall und lachen dazu in die Kamera.

Sebastian Brant, Das Narrenschiff (1499)

Es ist kein Albtraum, sondern ähnelt dem Einmarsch der Hauptdarsteller auf die Bühne in Institutionen, in denen man die Ärmel gewöhnlich hinter dem Rücken zusammenbindet. Die Böcke wurden zu Gärtnern bestimmt. Gewiß werden sie uns herrlichen Zeiten entgegenführen, wie Wilhelm zwo dereinst anzukündigen beliebte.

Die Narren auf der Bühne haben ihren eigenen Narrensaum: Die einen klatschen den gebührenfinanzierten geschuldeten Beifall, wenn der Kaiser seinen Auftritt hat. Daß er keine Prunkkleider trägt, fällt nur Klein Fritzchen auf. Der andere Narrensaum läßt sich derweil auf der Straße wie eine Schafherde zusammentreiben. Die Narren glauben an Demonstrations- und Meinungsfreiheit, gar an Volksherrschaft, und manche an Vergiftung durch Erdstrahlen, Impfungen oder Fleischnahrung.

Wer hat da Angst vor dem Tod?

Die Angst peitscht der Gesellschaft den Verstand aus: den einen die Angst vor Corona, den anderen die Angst vor der Impfung, allen gemeinsam aber vor dem Tod. Narren sie alle! Gibt es nichts Wichtigeres als den Tod?

Sie werden es nicht mehr erleben, tot zu sein. Niemand wird das. Aber jeder Einzelne lebt ein Leben, sein einziges Leben. Fragen sie noch danach, wie sie es leben? Im 16. Jahrhundert haben erste, fortschrittliche Gelehrte Gott kaltgestellt. Giftige Zweifel stuften ihn herab von einer immer waltenden Person zu einem Uhrmacher, dessen Universum auch ohne ihn läuft wie geschmiert bis schließlich zu einer abstrakten Idee des Guten. Als Ersatz setzten sie „den Menschen“ auf seinen Thron. Sie sprachen ihm das gottesebenbildliche Attribut der Würde zu.

Ihm dienen diese Gläubigen seitdem. Sterben ist für sie Blasphemie. Götter dürfen nicht sterben. Aber schon die Ägypter wußten: Ihr Gott Pharao stirbt nicht wirklich. Auch die römischen Cäsaren ließen sich als Gott verehren. Daß sie gelegentlich starben, tat dem Kult keinen Abbruch.

Der Kult unserer Gegenwart mißt „dem menschlichen Leben“ den höchstdenkbaren Wert an sich zu. Natürlich, schließlich sind wir ja gottesebenbildlich und haben Menschenwürde. Sterben? Eines Gottes unwürdig! Also ordnen wir fromm alle weltlichen Belange dem einen unter: Niemand darf sterben! – Welche Narren sie sind!

Sterben müssen wir alle – kein Grund zum Traurigsein
(Schedelsche Weltchronik 1493).

Es gibt “den Tod” nicht. Das Lebendigsein ist ein physiologischer Prozeß. Es gibt zwar organische lebende und anorganische tote Materie. Es gibt aber nicht das Leben und den Tod. Das sind bloß hohle Worte. Jeder kann selbst für sich entscheiden, wie er leben will, welche Form er seinem Dasein gibt und was er hinterlassen will. Ein Überleben gibt es nur genetisch: Wir leben in unseren Nachkommen fort, oder eben gar nicht. Sich fortzupflanzen und dann zu sterben ist die Natur alles Lebenden. Nur das Individuum aber stirbt, sein bewußter Erfahrungsschatz.

Die Fortpflanzung ist der einzige Schlüssel zum Fortleben, den wir haben, nicht die Lebensverlängerung mit Sauerstoffmaske auf der Intensivstation. Daß der Tod nur eine anthropomorphe Personifizierung ist, erkannte klar der Fantasy-Autor Terry Pratchett. Heute ist er tot, wie passend zum Thema! Er trieb die Torheit des Konzepts Tod persiflierend auf die Spitze in der Gestalt seiner literarischen Gestalt des Todes, der „lebt“, weil die Menschen glauben, daß es ihn gibt.

Angst vor dem Tod? Angst vor Corona? Et kütt, wie et kütt. Sollen wir aus Angst vor dem Tod vergessen, vorher tatkräftig zu leben? Manche Leute leiten ihre Macht über uns direkt aus unserer Angst ab. Sie ist der Nasenring, an dem sie uns wie Narren durch die Manege führen.

Der Tod als anthropomorphe Personifizierung
(Terry Pratchett, Gevatter Tod, Cover, Heyne 1999)

Irgendwann ist der Spaß für jeden von uns vorbei. Jedes Narrenschiff muß irgendwann wieder vor Anker gehen. Vielleicht zerschellt es auch an einem Felsenriff wie der Kahn des Schiffers im Lied von der Loreley. Ob seine Fahrt eine lustige Seefahrt wird, ein Auslaufen zum letzten Gefecht wie das des Schlachtschiffs Bismarck oder eine trunkene Bootstour verblendeter Narren, muß jeder für sich entscheiden.

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