Abkehr vom Moralismus durch Fantasy?

Philosophen haben einen schlechten Ruf. Den haben sie zweifellos nicht verdient. Ihre Klügsten haben uns nämlich befreit von den Hirngespinsten der – Philosophen!

Wie ein Huhn lange und inbrünstig auf einem Gelege sitzen und brüten kann, brüten gewisse Stubengelehrte manchmal ihr Leben lang auf Worten und Begriffen. Diese Worteier haben sie oft selbst gelegt, haben sie aus dem Nichts ihrer persönlichen Vorstellung geschöpft. „Ex nihilo nihil fit“ (auf gut Kölsch: Vun nix kütt nix.) lassen sie nicht gelten.

So erfanden sie das Nichts und zernichteten es wieder. Sie erfanden „das Ding an sich“, um spät oder gar nicht zu bemerken, daß es Dinge an sich nur in ihren Köpfen gibt. Schließlich erfanden sie gut und böse. Das hätten sie nicht tun sollen.

Seitdem weiß jedermann, was wir Menschen nicht tun sollen. Die Moralphilosophen sagen es uns. In ihrer Geisteswelt scheiden sie fein säuberlich das Gute und das Böse voneinander, jede Handlung, jeder Mensch, ist gut, oder er ist böse. In der Welt der Moralphilosophie herrschen die Moralphilosophen. Sie bestimmen verbindlich, was gut und böse eigentlich bedeutet und was wir darum gefälligst zu tun und zu lassen haben.

Widerspruch dulden sie nicht. Was verstehen wir einfachen Leute schon von Philosophie, deren Herren und Meister sie doch sind?

„Be­son­ders be­fällt diese Krankheit die Männer im Dämmer der Studierstube, die im Bücher­staub der Scho­lastik aufgewachsen sind und einsam ihren Spekulatio­nen nachhän­gen. Bei de­nen gilt als Tod­feind, wer ihre Überzeugun­gen nicht als Orakelsprüche nimmt.“

Samuel von Pufendorf, De statu Imperii Germanici, 1667, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Hrg.Horst Denzer, Frankfurt/M.1994, S.249.

So bekommen wir tagtäglich eingeseift, was für uns gefälligst gut und böse zu sein hat. Wie gut, daß wir die Gutmenschen haben! So zahlen wir unsere Steuern, denn stehet nicht geschrieben: Seid Untertan der Obrigkeit?“ – So fischen wir Glücksuchende auf, denn stehet nicht geschrieben: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst?“ So bauen wir ihnen Häuser und Wohnungen, und füttern sie durch, denn stehet nicht geschrieben: „Seid gut, oder ihr seid allesamt Nazis?“

Wann werden wieder Bücher verbrannt – unmoralische? Vor allem diese Ausländer schreiben da manchmal ganz verdächtiges Zeug, das noch dazu immer populärer wird und schon fast als populistisch verurteilt werden muß. Schimpft doch so ein Pole in einem Fantasy-Roman über einen Hexer (böse!) auf die Philosophen:

Du hast keine Ahnung, wieviel Schlechtes ihr vergreisten Gelehrten der Welt zugefügt habt, ihr Theoretiker mit euren Büchern, mit hundertjähriger Erfahrung im Lesen von Moraltraktaten, so gewissenhaft, daß ihr nicht einmal Zeit hattet, mit einem Blick aus dem Fenster zu sehen, wie die Welt wirklich aussieht. Ihr Philosophen, die ihr künstlich eine künstliche Philosophie unterhaltet, um an den Universitäten Pensionen zu beziehen. Und weil kein Hund euch für die häßliche Wahrheit über die Welt bezahlen würde, habt ihr Ethik und Morallehre erfunden, schöne und optimistische Wissenschaften. So schön und optimistisch, daß sie erlogen und erstunken sind!“

Andrej Sapkowski, Der Schwalbenturm, „Der Hexer“ Band 5, dtv-Ausgabe 2019, S.458.
Moderne Fantasy: versteckter Amoralismus?

Wächst da im Verborgenen ein moderner Amoralismus? Erhebt das besiegt geglaubte Böse wieder sein freches Haupt? Gedeiht unter dem harmlosen Etikett einer „Fantasy“ – Unterhaltung für moderne Kinder – das Böse an sich? Da gibt es zu denken, daß noch in der Hollywood-Produktion Star Wars das Gute und das Böse säuberlich voneinander geschieden waren. Die Guten waren nur gut, die Bösen nichts als Böse. Und damit selbst der jüngste und dümmste Zuschauer es begreift – wir leben im Zeitalter des Mammons und des Massenkonsums – setzte man dem Erzbösewicht Darth Vader eine Art SS-Helm auf, schwarz, versteht sich. So kannten wir unser Hollywood, Opas Kino im intergalaktischen Kampf zwischen gut und böse.

Damit ist jetzt Schluß. Im „Lied von Eis und Feuer“ setzte der New Yorker George R. Martin, auch ein Ausländer also, neue Maßstäbe. Unter dem Titel „Game of Thrones“ eroberte es als Filmepos die Herzen eines Millionenpublikums. Die Fantasy-Welt des Autors ist ganz, ganz schrecklich. Man kann das Gute vom Bösen einfach nicht mehr unterscheiden. Mörderische Erzschufte zeigen sich zuweilen als Menschen mit Herz, Skrupeln und philosophischen Ambitionen. Eine strahlende Heldin, Befreierin der Unterdrückten und Versklavten, mutiert zur Massenmörderin. Überall sehen wir Menschen, wie sie wirklich sind in der ganzen Komplexität ihres Denkens und Handelns. Es triumphiert nicht zwangsläufig das Gute. Wir sehen eine Phantasiewelt, bevölkert von Menschen, wie sie wirklich sind und nicht so, wie Gut-Böse-Moralismus sie uns einreden möchte. Wo die Moral ihren Tiefpunkt erreicht, feiert die Realität ihre Triumphe.

George R.R. Martin, Game of Thrones – eine amoralische Welt.

Der Tiefpunkt an Realitätssinn ist erreicht, wo eine fremdbestimmte Moral herrscht. Jede Moral ist fremdbestimmt. Sie besteht in Sollensforderungen von Moralisten und Herrschaftsansprüchen derer, denen sie konkret dienlich sind. In Deutschland predigen sie nicht ganz zufällig, aber subjektiv guten Wil­­lens den Glau­ben an eine Mensch­­heitsmoral, auf deren Fuß die Welt­bank folgt. Jede Philo­so­phie mit universa­lem Anspruch ist eine ob­jektive Bedro­hung für jedes Volk, das geistig eigenständig bleiben will. Im le­bens­wich­tigen Punkt sei­nes Glaubens, seiner Moral, seiner Werte gleich­ge­schal­tet und fremd­­be­stimmt, treibt das Volk der Auflösung ent­ge­gen: zur Gegen­wehr nicht nur unfähig, sondern auch unwillig.

Nur den Philosophen tun wir unrecht. Philosophen sperrten uns in unsere Moralkäfige. Aber klammheimlich, von der Öffentlichkeit oft unbemerkt, lieferten andere uns den Schlüssel. Sie klärten uns auf, wie wir der Moral entkommen können. Ein Pionier dieser Aufklärung war Friedrich Nietzsche, andere folgten. Leider erfordert seine Lektüre einen IQ über 90, was ihn in Zeiten der Massengesellschaft für das Gros des Publikums in der ersten Reihe unverdaulich macht. Zu Nietzsches Zeit war die Epoche des Moralismus zu Ende. Er lebte in einer geistigen Zeitenwende und versetzte ihm den Todesstoß.

Philosophen verspüren in der Regel atmosphärische Änderungen und neue Fragestellungen mit einiger Verspätung. Sobald sie aber in eine bereits laufende Debatte eingreifen, erheben sie den mit der Würde ihres Amtes verbundenen Anspruch, die Sache, um die es geht, in ihre Kategorien einzuordnen und unter Berufung auf den angeblich höheren Status derselben das letzte Wort zu behalten.

Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, 1991, S.3

Gut und böse waren solche Kategorien. In einer von der Vorstellung eines substanziellen Gut und Böse beherrschten Welt herrschen in Wahrheit diejenigen, die verbindlich darüber entscheiden, was das Gute ist und was es konkret von uns fordert. Der Philosoph Nietzsche griff nach dieser Definitionsmacht und erklärte gut und böse für leere Worte, denn es ist

der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrtümer, ein Dogmatiker-Irrtum, nämlich Platons Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich.

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1885, Vorrede.

Er appellierte unablässig an unser Auge für die sinnfällige Realität gegen die „blassen, kalten und grauen Begriffs-Netze“ der platonischen Philosophie und ihres Gut und Böse.

Die Generationen, die auf Nietzsche folgten, sind ins Grab gesunken. Ihren gesamtschulgeschädigten und von ARD und ZdF im geistigen Nullmodus gehaltenen Nachkommen erzählt man allabendlich im Staatsfernsehen, was für ein Glück sie haben, daß Deutschland heute gut ist, daß es da aber auch noch ein paar versprengte Böse gebe und wie man das Böse niederhalten müsse, denn

das moralische Urteilen und Verurteilen ist die Lieblings-Rache der geistig Beschränkten an denen, die es weniger sind,

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 219.

Sie wollen uns geradezu verhexen: „Unsere tägliche Moral gib uns heute“, bis wir vor lauter Betroffenheits-Besoffenheit nicht mehr laufen können. Es liegt an jedem einzelnen, ob diese allabendliche Rache an ihm gelingt oder ob er herausfindet, wo der „Aus“-Schalter ist. Die Käfigtür steht einladend offen.

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