Das Attentat war von langer Hand geplant. Die „Revisoren“ der Ordnung kannten kein Erbarmen. Da hatte diese chaotische menschliche Phantasie doch den – Weihnachtsmann erfunden! Er sollte sterben. Aber wie tötet man eine Phantasiefigur?

Terry Pratchett (1948-2015) wußte es, und mit ihm wissen es Millionen Leser seiner Fantasy-Romane. Wie kein anderer Autor hat Pratchett alle philosophischen Finessen für bare Münze genommen, persifliert und ironisch durchdekliniert. Hinter der Fassade seiner „Fanatasy“ verbergen sich profunde Kenntnis und geniale Philosophiekritik.

Terry Pratchetts Romane

Gevatter Tod als handelnde Person? Ein Pharao als lebender Gott übersteht seinen Tod? Der Weihnachtsmann müht sich durch den Schornstein abwärts und bringt Geschenke? – Willkommen in der Scheibenwelt! Hier handeln selbst die Naturgesetze wie Personen und haben es auf den Weihnachtsmann abgesehen. „Schneevater“ heißt er bei Pratchett. Wie auch „Der Tod“ ist er eine anthropomorphe Personifizierung.

Es gibt ihn, weil Menschen an ihn glauben. Die menschliche Phantasie allein schafft ihn wie “Gott” aus dem Nichts, und mit ihr muß er im Nichts aufgehen, wenn der Glaube an ihn erlischt.

 “Gott ist ,,nichts anderes” als die Intelligenz, die sich der Mensch wünscht und von der er nicht weiß, daß er sie selber hat. Was bejahst du, was vergegenständlichst du also in Gott? Deinen eigenen Verstand. Gott ist dein höchster Begriff und Verstand, dein höchstes Denkvermögen… Was ich im Verstande als wesenhaft erkenne, setze ich in Gott als seiend: Gott ist das, was der Verstand als das Höchste denkt. Was ich aber als wesenhaft erkenne, darin offenbart sich das Wesen meines Verstandes, darin zeigt sich die Kraft meines Denkvermögens”.

Ludwig Feuerbach (1804-1874)

Wir schaffen uns die Gestalten unser Phantasie, indem wir sie denken, und wenn die Vorstellungskraft erlischt, enden auch unsere kreativen Vorstellungen von Göttern, vom Gevatter Tod, vom Weihnachtsmann, vom deutschen Volk … Oh, war das jetzt voreilig?

Die „Revisoren“ einer starren Naturgesetzlichkeit setzen ihren Attentatsplan ins Werk. Den Menschen muß nur der Glaube genommen werden, dann verendet der Weihnachtsmann, so lautet der Plan.

Alle geistigen Gestalten und Gebilde leben als Vorstellung in uns, oder sie „leben“ eben überhaupt nicht. Auch Völker sind solche geistigen Gebilde. Manche Leute nennen sie abfällig „bloße Konstrukte“ ohne „reale“ Existenz. Daran ist richtig, daß das Wort Volk einen sozialen Bindungszusammenhang beinhaltet, ohne den da kein Volk mehr wäre, sondern nur noch eine beliebige Gesellschaft igendwelcher Leute. „Volk“ und „Familie“ erlöschen, wenn keiner ihrer Angehörigen sich mehr zugehörig fühlt. Wer den verbindenden Zusammenhalt sucht und das Volk dafür in seine Bestandteile zerlegt, wird ihn aber nicht finden, weil er nicht körperlich ist.

Am 1.12.2019 behauptete ich hier: „Das deutsche Volk befindet sich in heller Auflösung. Diese Auflösung wurde von langer Hand geplant“, und bekam dafür von einem Leser ein Fragezeichen. Eine „Planung von langer Hand“ erfordert allerdings kein Gremium von „Revisoren“, bei Pratchett frei schwebende farblose Kutten, die sich um einen Tisch setzen und sich verschwören. Es genügt völlig, wenn eine ideologische Strömung die Oberhand gewinnt, die mit „Volk“ nichts anfangen kann und den Begriff systematisch zersetzt. Solche Extremisten haben ihren Marsch durch die Institutionen jetzt abgeschlossen und diktieren die Begrifflichkeiten neu. Aus dem Volk wurde die bloße Gesellschaft. Man will auf null setzen, in welcher Weise wir soziale Zusammendenken sprechen sollen und denken können.

Für sie gibt es gar kein Volk im Sinne einer verpflichtenden Bindung verwandter Menschen aneinander. Für sie sind alle Menschen gleich. Sie meinen, aus all jenen gleichen Menschen könnten sie jeden Tag etwas gänzlich Neues schaffen. Wenn ich mir das deutsche Volk vorstelle wie einen Kölner Dom, errichtet aus unterschiedlichen weißen Legosteinen, und daneben das französische wie Notre Dame, errichtet aus blauen, sehen solche Leute keinen Dom und keine Notre Dame. Sie sehen die Gestalten einfach nicht, und sie leugnen die inneren Bindungskräfte, die einen Legostein am anderen haften läßt. Sie sehen nichts weiter als einzelne, farblos-identische Einzelsteine.

Daß ein Ganzes mehr sein kann als die Summe seiner Teile, ist ihnen völlig fremd und unverständlich. Von sozialen Gesetzmäßigkeiten und emotionalen Bindungskräften wissen sie nichts. Mit einem großen Rundumschlag möchten sie den Dom und Notre Dame und alle anderen Gebilde zerstören und zuschauen, ob sich aus den chaotisch durcheinandergeworfenen Einzelteilen eine schöne, neue Welt herrlicher Bürger bildet.

So einfach wie Moslems es sich vorstellen, tötet man den Weihnachtsmann nicht.

Das deutsche Volk beruht auf tatsächlich miteinander verwandten Menschen. Als soziales Gebilde ist es aber ein Hirngespinst, das nur solange existiert, wie Menschen in der Vorstellung handeln, es gäbe dieses Volk gleichsam wie eine Wesenheit. Dann wird es tatsächlich als soziales Gebilde mit einer soziologisch beschreibbaren inneren Ordnung existieren. Terry Pratchett wußte genau, wodurch geistige Gestalten und soziale Gebilde hervorgerufen werden:

Nimm das Universum und mahl es, bis es zu einem ganz feinen Pulver wird, und dann filtere es durch das feinste Sieb, und dann zeig mir auch nur ein Atom Gerechtigkeit, ein Molekül Gnade. Und doch verhalten sich die Menschen so, als gäbe es eine ideale Ordnung in der Welt.

Terry Pratchett, Schweinsgalopp, 1998, S.393.

Wer die Legosteine des Kölner Doms durcheinanderwirft und sie einzeln durchsucht, wird kein Atom „Dom“ in dem Haufen finden, und doch vermögen wir Menschen, den Einzelteilen eine ideale Ordnung zu verleihen. Wir glauben nämlich an Dinge, die nicht oder noch nicht oder nicht mehr existieren.

Ihr braucht eine Möglichkeit, an Dinge zu glauben, die nicht existieren. Wie sollen sie sonst einen Platz in der Wirklichkeit finden?

Terry Pratchett am angegebenen Ort S.394

Diese Wirklichkeit durch die Kraft der Phantasie und der Vorstellung zu schaffen und zu gestalten, bildet eine unserer staunenswertesten Fähigkeiten.

Susanne seufzte. „Du behauptest, Menschen brauchen Hirngespinste, um sich das Leben erträglicher zu machen?“ –

[Gevatter Tod]: „Tatsächlich? So wie rosarote Pillen, die falsche Freude schenken? Nein. Menschen brauchen solche Dinge, um Menschen zu sein. Um sich an dem Ort aufzuhalten, wo der gefallene Engel dem emporkletternden Affen begegnet.“

am angegebenen Ort S.393

Für emporkletternde Affen sind Legosteine nichts besseres als potentielle Affenfelsen, eben gut, auf einen Haufen zu klettern und zu triumphieren: Alle Steine und alle Affen sind gleich!