Unser Grundgesetz hat nicht das Leben, sondern die Menschenwürde zum höchsten Verfassungsgut erklärt. Nicht daß wir alle sterben müssen, sondern wie wir leben, ist die unter uns Lebenden entscheidende Frage.
Sie ist eine Frage der inneren Haltung, die nur jeder für sich selbst beantworten und entscheiden kann. Unser Staat will uns ermöglichen, in Würde zu leben, zwingt uns aber nicht dazu. Jeder hat die Freiheit, sich selbst zu erniedrigen, vor vermeintlich Höherem auf den Knien herumzurutschen, sich bei Mächtigen einzuschleimen und zu katzbuckeln, ja sogar, sich sinnlos zu betrinken und besudelt in der Gosse zu landen.
Es ist eine Frage des persönlichen Geschmacks und des individuellen Stils einer Person, erhobenen Hauptes, gebeugten Knies oder gar besudelt durchs Leben zu gehen. Dränge ein Psychologe tief in eine Persönlichkeit ein, fände er gewiß die letzten Gründe unserer Verschiedenheit: Schwach und darum unterwürfig fühlt sich vielleicht der eine, stark und trotzig ein anderer. Wer dominant ist, unterwirft sich nicht so leicht wie ein untertanenhafter, devoter Charakter.
Auf der politischen Rechten finden wir besonders viele eigenwillige Persönlichkeiten. Hier gibt es immer genug geborene Häuptlinge, aber wenig einfache Indianer. Solche Menschen lassen sich und ihren Stamm lieber von der Kavallerie niederschießen als sich in ein Reservat umsiedeln zu lassen. Andere knieten nicht nieder vor den Altären jenes komischen neuen Gottes, sondern steckten lieber den Missionar in den Kochkessel. Ein derartiger Kommandant einer umzingelten Festung kapituliert nicht, bloß weil die Belagerer seinen Sohn als Geisel halten und zu erschießen drohen.
Es ist eine Stilfrage, welche Kriterien entscheiden: moralische für den Einen, ökonomische für den Zweiten oder Lebensgenuß für den Dritten. Und dann gibt es jenseits aller Gutmenschen, Geldmenschen und Genußmenschen eine spezielle Spezies, die im Zweifel alles andere sausen läßt: die Moral, den Profit und den Genuß. Diese Leute haben in ihrem Kopf eine ganz präzise Vorstellung davon, was sie sein wollen, wie sie sein wollen und welches Bild sie dabei abgeben. Dieses sollte ein glänzendes, zu bewunderndes Bild sein – für sie völlig klar.
Nicht jeder wird, was er ist, durch Elternhaus, Erziehung und Schule. Aller Pädagogik zum Trotz wenden sich manche Menschen genau gegenteiligen Vorbildern zu. Vorbilder erwachsen uns aus den tiefsten Schichten unserer Erinnerung: Siegfried der Drachentöter und Dietrich von Bern oder auch Kinohelden wie Eddard Stark, der Lord von Winterfell aus George R. Martins Roman „Das Lied von Eis und Feuer“. Je mythischer und literarischer eine Gestalt ist, desto kantiger die Konturen ihres Charakters.
Wer sich mit starken Persönlichkeiten seelenverwandt fühlt, formt seinen eigenen Charakter so, wie er sich seine Vorbilder vorstellt, und versucht entsprechend zu handeln. Er entwirft ein Konzept von sich selbst und handelt danach. In solchen Lebenskonzepten mancher Menschen von sich selbst ist das Beugen von Knien nicht vorgesehen. So dichtete Julius Mosen 1810 über den letzten Weg Andreas Hofers:
Doch als aus Kerkergittern im festen Mantua
Die treuen Waffenbrüder die Händ’ er strecken sah,
Da rief er aus: “Gott sei mit euch,
Mit dem verrat’nen deutschen Reich
Und mit dem Land Tirol!“
Dort sollt er niederknien; er sprach: “Das tu ich nit.
Will sterben, wie ich stehe, will sterben, wie ich stritt.
So steh’ ich hier auf dieser Schanz –
Es leb mein guter Kaiser Franz,
Mit ihm sein Land Tirol!“
Der feste Wille, nicht aus der selbstgewählten Rolle zu fallen, kann stärker sein als die Angst vor dem Tod. Es gibt viele Menschen mit sehr unterschiedlichen Ideen von sich selbst, für die das Opfer des Lebens weniger wiegt als der drohende Verlust der Selbstachtung. Die Mutter, die um den Preis ihres eigenen Lebens ihr Kind verteidigt, der Festungskommandant, dem Pflichterfüllung selbst über dem Leben seines Sohnes steht, der Greis, der seine Familie selbst um den Preis eigener Ansteckung mit einer Seuche noch einmal um sich sehen will:
Sie alle treffen, jeder für sich, ihre ganz eigenen, selbstbestimmten Entscheidungen. Sie entscheiden, was für ein Mensch sie sein wollen. Diese Selbstbestimmung ist Voraussetzung ihrer Selbstachtung, ihrer Menschenwürde. Sie wissen: Am Ende kommt es darauf an, vor sich selbst bestehen zu können. In diesem Sinne dichtete der große Theodor Fontane:
Es kann die Ehre dieser Welt,
Dir keine Ehre geben;
Was dich in Wahrheit hebt und hält,
Muß in dir selber leben.
Das flücht’ge Lob, des Tages Ruhm,
Magst du dem Eitlen gönnen,
Das aber sei dein Heiligtum:
Vor dir bestehen können.
Vor sich selbst bestehen zu wollen, ist kein Privileg die Ideenwelten verachtender Bewunderer eines heroischen Realismus. Man kann auch ein Leben in christlicher Demut führen und Landstreichern die Füße waschen, wenn das persönliche Weltbild dies gebietet. Der Typus des selbstbewußten Hagestolzes ist aber ein genuin rechter. Wenn Priester ihm erzählen, ihr Gott verlange, die andere Wange auch noch hinzuhalten, wenn ihm jemand auf die eine geschlagen hat, wird er das als grausige Perversion ablehnen.
Seiner seelischen Selbstkontrolle entspricht der Wunsch, seine Umgebung nach seiner Idee zu formen. Er sieht sich als Demiurg, als Schöpfer, nicht als Geschöpf. Er will gestalten, darum muß er das Heft in der Hand halten. So ist er selbst Anführer – oder der geborene Revolutionär. Dann sucht er sich die Wirklichkeit nach seiner Vorstellung umzuschaffen, bis sie sich zu erhalten lohnt.
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